Metas „Threads“ – Die ersten 36 Stunden

Seit gestern Morgen bin ich auch dabei. Bevor ich erste Eindrücke schildere, diese Einschränkung: Den gestrigen Tag habe ich nicht nonstop mit „Threads“-Beobachtung verbracht. Sie werden es verstehen; hier herrschten über 30 Grad, ich hatte frei, ich liebe den Sommer und Hitze*, Freunde fragten nach Begleitung zu einem der zahlreichen, wunderschönen Seen in der Umgebung – also verbrachte ich meinen Tag dort mit regelmäßigem Blick in die neue App. Eine Anekdote von vor Ort: Vor uns lagen ein Vater mit seinem Teenie-Sohn. Die beiden diskutierten dies und das, und als man unterschiedlicher Meinung war, sagte der Junge für alle laut vernehmbar zu seinem Vater dies: „Fick dich. Ich hasse dich.“ Der Vater reagierte mit einem Lachen, Sohnemann lachte auch, man plauderte weiter. Ich bin noch immer ein wenig – nun, nennen wir es: erstaunt.

Und damit wären wir bei Twitter. Dort postete ich diese primitive kleine Begebenheit. Einige teilten mein Befremden, andere aber sahen das Problem eher bei mir. Nun gut. Es ist halt Twitter. Da hat sich ein solcher Umgang ja bereits lange vor Elon Musk etabliert. Warum sollte sich in der Gosse jemand wundern über Gossensprache?

„Threads“ ist nun angetreten als Twitter-Gegenentwurf. Auch wenn Mark Zuckerberg sich nicht zu schade ist für Debatten um einen etwaigen Käfig-Kampf mit Musk, ist er ja schon nicht gänzlich unzurechnungsfähig. Dass seit Musks Übernahme und trotz Mastodons nerdig-lahmer politisch korrekter und vorbildlich dezentraler Performance ein großer Bedarf da ist nach einer Alternative, hat er ausgenutzt und kombiniert nun gleich drei sich aus seiner Sicht tippitoppi zusammenfügende Vorlagen: Viele wollen weg von Twitter, erstens. Viele mussten weg von Twitter: Musk hat in großem Stil und Bogen Mitarbeiter rausgeschmissen. Die müssen Geld verdienen. Und haben Ahnung von einem textbasierten sozialen Netzwerk. Das hat Zuckerberg drittens auch, siehe Facebook, zudem besitzt er Instagram und wenig Skrupel, und so schließt sich der Kreis: Relativ schamlos hat Zuckerberg Twitter kopiert, sich dabei von Leuten helfen lassen, die lange bei Twitter waren, und direkt mal die Crowd von Instagram befähigt, ihren dortigen Account nach Threads rüber zu transferieren. (Mehr dazu habe ich hier mit Gavin Karlmeier in seinem und Dennis Horns Podcast „Haken dran“ besprochen und hier in meinem Blog, den Sie vielleicht noch nicht kennen, ha ha, aufgeschrieben.)

Es ist also noch ganz kuschelig da drüben. Das ist ein Unterschied. Ein weiterer: In der Timeline erscheinen nicht nur diejenigen, denen man folgt. Das war ja früher bei Twitter so. Finde ich eine gute Sache, weil es den Horizont erweitert undsoweiter, nur hat man ja inzwischen bei Twitter sogar solche in der Timeline, die man geblockt oder gemutet hat. Aus guten Gründen. Darunter, auch das ein Unterschied, Leute mit blauem Haken. Ich kann jetzt nicht ganz uneingeschränkt sagen, dass der vor Musk und seinem peinlichen Blue-Abo-Modell zu 100% ein Garant war für gewinnbringende Beiträge. Das verbietet mir schon allein die Bescheidenheit, denn ich hatte auch einen. Aber er war ein Garant dafür, es nicht zu 90% mit Leuten dahinter zu tun zu haben, die ihre aus ebenfalls sehr guten Gründen vor ihrem blauen Haken nicht allzu große Followerschaft nun mithilfe großer, gekaufter Reichweite wenn nicht zu vergrößern, dann doch zu kompensieren. Etwas einfacher formuliert: Dass Hans74040 nur zwei Follower hatte, lag an seinen bescheuerten Tweets. Nun hat er auch nicht mehr Leute, die sich aktiv dafür interessieren. Weil er aber wichtig sein will, zahlt er Geld und wird nun passiv konsumiert, weil man sich kaum dagegen wehren kann. Da erweitert sich nicht mein Horizont, sondern ab und zu meine Halsschlagader.

Das soll alles so bleiben, wünschen sich die Leute bei Meta natürlich. Nur ist ihre Idee, wie diese Vision gelingen kann, abenteuerlich, nicht allzu demokratiefördernd und deshalb in Summe eine weitere Kapitulationserklärung einer Plattform gegenüber den Geistern, die sie rief:

https://www.threads.net/t/CuZ6opKtHva/?igshid=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D

Insta-Chef Adam Mosseri sieht also eine Lösung des massiven Hassproblems, das sein Netzwerk über Jahre massiv verschlafen und anschließend über Jahre massiv geleugnet und gleichzeitig über Jahre massiv vernachlässigt hat und dies noch tut, hierin: Wir posten einfach keine politischen Inhalte.

Halleluja, warum sind wir da denn nicht früher drauf gekommen? Oder Meta?

Tja. Weil Meta, damals noch Facebook, sich äußerst gerne feiern ließ für seine Rolle im Arabischen Frühling. Weil man plötzlich everybody’s darling war. Von Menschen bevölkert, von Werbetreibenden fürstlich entlohnt, und von denen, die man jetzt nicht mehr so gern dabei oder thematisiert haben will, hofiert: von Politikern. Es ist der bisher bizarrste, peinlichste und entlarvendste Vorschlag, den ich je von einem Netzwerk-Verantwortlichen gehört habe. So viel Nonsens hätte ich nicht mal Musk zugetraut.

Die öffentliche Sphäre entpolitisieren zu wollen, lässt die gewinnen, die andere zum Schweigen bringen wollen. Und zeigt vor allem eins: Wie wichtig Regulierung ist. Und wie absurd es ist, auf Meta zu hoffen. Nur weil man nicht so absurd unterwegs ist wie Musk, ist man nicht automatisch nicht absurd.

Metas „Threads“

Donnerstag soll sie kommen, die Alternative zu Twitter. Mark Zuckerberg will die stetig wachsende Niveau-Lücke, die beim Kurznachrichtendienst seit der Übernahme durch Musk klafft, füllen. Er geht das klug an – und nimmt damit womöglich den seit Wochen diskutierten Kampf zwischen den beiden Giganten vorweg. (Mehr möchte ich an dieser Stelle zu einem möglichen Käfig-Kampf zwischen den beiden Männern, die Macht über unser aller Daten haben, nicht schreiben. Ich bin erwachsen und habe einen Uniabschluss, ich kann mich wirklich nicht mit so einem Unsinn beschäftigen. Ok, ich kann schon. Will ich aber nicht. Würde würde hier nicht nur im Notfall großgeschrieben.)

„Threads“ soll an Instagram andocken. Aus drei Gründen ist das klug, wenn auch nicht so genial, wie jetzt manche tun: Instagram gehört zu Meta und genießt damit nicht diesen störrischen, lebensfremden Nimbus wie Mastodon. Zweitens nutzen Milliarden Menschen Insta. Man kann seinen Accountnamen von dort einfach mit rübernehmen zu Threads, das hat was Heimeliges. Womit wir bei drittens wären: Bei Insta ist man ja nett zueinander. Zumindest im Vergleich zur an Stalingrad angelehnten Atmosphäre bei Twitter oder – Achtung: Facebook.

Facebook hingegen ist ja nun wirklich kein Vergnügen mehr, und zwar seit Langem. Da beschmeißen sich seit geraumer Zeit diejenigen gegenseitig mit Dreck, die es nicht rübergeschafft haben zu Twitter. Vergangene Woche erzählte eine kanadische Journalistin, dass ihr Arbeitgeber nur bei Instagram voll mitmische. Auf Twitter mische er gar nicht erst mit, und bei Facebook habe er die Kommentarfunktion deaktiviert.

Facebook gehört aber ja nun genauso zu Meta wie Instagram. Heißt: Zuckerberg hat den Hass genau so wenig im Griff wie Musk. Klar, er ist nicht halb so erratisch und viel berechenbarer als Musk. Das ist aber nicht schwierig. Musk hat Twitter aus einer Bierlaune heraus gekauft und wundert sich nun anscheinend, dass das Bierzelt aus immer lauter grölenden Leuten besteht, die zwar für den Haken zahlen – für deren Daten aber werbetreibende Unternehmen womöglich nicht so gerne zu zahlen bereit sind.

Zuckerberg, das will ich damit sagen, macht Elon Musk nicht automatisch zu Julian Reichelt: Seit dessen Rausschmiss bei der Bild gilt die einigen plötzlich als nicht schlimm. Und das ist ja Quatsch.

Ich bin jedenfalls äußerst gespannt auf Threads. Ob und wenn ja, was Zuckerberg aus den eigenen Fehlern und denen von Elon Musk gelernt hat. Oder ob wir am Donnerstag einfach noch eine Hassmaschine mehr haben. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man wird ja noch träumen dürfen!

„Darüber kotzt das Netz“

Friedrich Merz war im Krankenhaus, berichtetet er am Ostersonntag auf Twitter. Keine Sorge, dem CDU-Chef geht es gut. Er begleitete die Frühschicht auf der Intensivstation des Klinikums Hochsauerland als Hospitant. Merz wäre ein schlechter Politiker und hätte keine Ahnung von guter PR, würde er seinen Tweet nicht mit der Beteuerung garnieren, er sei „nicht als Politiker, sondern als Teil des Pflegeteams“ dabei gewesen.

Das ist natürlich Quatsch, aber wie gesagt: Das gehört zum guten Handwerk, sich bescheiden geben zu wollen.

Was zum journalistischen Handwerk gehören kann, ist, darüber zu berichten. Man könnte zum Beispiel – gerade an traditionell vor allem innenpolitisch eher nachrichtenschwachen Tagen wie Karfreitag, Karsamstag, Ostersonntag und Ostermontag – hinterfragen, ob ein solcher Einsatz Sinn ergibt. Wo Politiker vielleicht auch mal reinschnuppern könnten, um Entscheidungen auf Grundlage praktischer Erfahrungen zu treffen. Um Notstände mit den eigenen Augen zu sehen. Man könnte mal gucken, wer schon mal wann wo wie als „Parkitkant“ war. Ob sich Reden, Missstände, Einstellungen dadurch verändert haben.

Was zum journalistischen Handwerk nicht gehört: Einfach nur eins zu eins nacherzählen, dass Friedrich Merz im Krankenhaus eine Schicht lang mitgelaufen ist. Das ist dann nämlich auch PR. Und eben kein Journalismus.

Was man ebenfalls nicht tun sollte: Den fast schon obligatorischen Text darüber schreiben, wie „das Netz“ reagiert. Denn das ist schrecklich langweilig. Und was man – ich schreibe dies aus gegebenem Anlass – tunlichst vermeiden sollte, wenn man sich schon für diese „Schnell und billig“-Simulation von Journalismus entscheidet: Einfach random irgendwelche Accounts zitieren, die sich über Merz‘ Tag als Praktikant lustig machen – zumindest dann, wenn es wirklich lediglich einer Mini-Recherche auf einfachstem Niveau bedarf, um eins festzustellen: Ein zitierter Account-Inhaber gehört einer Partei an – und zwar nicht der CDU, sondern zum Beispiel den Grünen – und postet zu 99% Inhalte, die Initiativen, Reden und Forderungen der eigenen Leute weitestgehend völlig frei von auch nur leisester Kritik bejubeln. Also handelt es sich um jemanden, den man auch mit Blick auf sein Agieren in den sozialen Medien als „Parteisoldaten“ bezeichnet. Seine Einschätzung von Merz‘ Einsatz, die natürlich nicht allzu positiv ausfällt, einfach Wort für Wort abzutippen oder einzubetten, ist nichts anderes als – ganz genau: PR. Peinlich.

Wo wir schon mal dabei sind: Auch eher unglücklich ist die Textgattung „Aufregung im Netz“. Und trotzdem finden sich genau solche Geschichten so gut wie jeden Tag auf den einschlägigen Nachrichtenseiten. Warum? Weil es JEDE SEKUNDE Aufregung im Netz gibt. Und zwar zu ZIRKA JEDEM THEMA. Es ist nichts Besonderes und besitzt deswegen eine Aussagekraft von stark gegen null tendierend. „Hund beißt Mann“ 2.0 ist das.

Als wäre das nicht schon Argument genug gegen diese Geschichten, fehlt auch hier häufig die Zeit, das Geld, vielleicht auch der Wille, genauer hinzuschauen. Einzuordenen. Meine Lieblingsgeschichte seit vielen Jahren ist in diesem Zusammenhang die mit Julia Klöckner und Nestlé. Klöckner, damals für die CDU Bundesverbraucherministerin, postet auf allen dankbaren Social Media-Kanälen ein Video von sich und dem Nestlé-Chef Deutschland. Das wirkte auf nicht Wenige etwas befremdlich und zu werbig. Und mit „nicht Wenige“ meine ich nicht „das Netz“. Auch aus ihrer eigenen Partei meldete sich die ein oder andere, sagen wir mal: nachdenkliche Stimme.

Wie immer, meldeten die sich auch „im Netz“. Und wie immer, mischten sich unter die nachdenklichen auch die obszönen Stimmen. Die, die man im analogen Leben sehr schnell rausfiltern würde als nicht aussagekräftig, weil in Duktus und Habitus einer am Diskurs eher nicht interessierten Minderheit angehörig. Natürlich wurde Klöckner auch als „Hure“ bezeichnet. Es gibt kaum eine Tat oder Äußerung von Frauen mit einigermaßen Reichweite, auf die nicht einer oder mehrere Primitivlinge reagieren. Das ist überhaupt nicht in Ordnung; ich gebe so etwas zum Beispiel immer weiter an meine Anwälte. Nur weil ein paar Leute charakterlich abgenutzt sind, sollte man nicht auch Abnutzungserscheinungen bei sich selbst hinnehmen und solchen Ausfällen qua Gewöhnung nur noch mit müdem Achselzucken begegnen. Meine Meinung. (Und nein, Herbert648492, ich habe nicht zu viel Zeit. Ich nehme sie mir, um solche Unverschämtheiten nicht einfach hinzunehmen.)

Eine der wirklich großen Websites nutzte den Ärger um Klöckners Video für einen „So reagiert das Netz“-Text. Und zitierte quasi an erster Stelle den „Hure“-Tweet. Den jemand abgesetzt hatte, der nicht nur über keine Kinderstube verfügte, sondern auch über so gut wie keine Follower, keinen Klarnamen und kein Profilbild. Der Tweet hatte zudem bei anderen Usern weder Applaus noch Entrüstung hervorgerufen. Entweder hatte ihn schlicht und einfach niemand gesehen, oder aber man hatte ihn ignoriert. So wie man den grölenden Typen in der Fußgängerzone ja auch ignoriert. Weil der immer grölt und keinen Einfluss auf irgendwas hat außer auf die Dezibelzahl.

Da müsste man sich ja eigentlich als Journalist als Allererstes fragen: Wofür steht dieser Tweet? Welche Denkrichtung repräsentiert er? Für welche relevante gesellschaftliche Strömung spricht der Urheber? Antwort: Für keine. Der Tweet stammte nicht von einem prominenten Vertreter einer anderen Partei, sodass man mal die Frage stellen müsse, wohin der politische Diskurs eigentlich perspektivisch qualitativ steuert. Er stammte nicht von Til Schweiger, bei dem sich diese Frage ja auch seit einiger Zeit stellt. Cathy Hummels war nicht dran beteiligt, auch von keinem Nestlé-Mitbewerber. Dahinter steckte nicht die damalige Kanzlerin, was natürlich tatsächlich auch einen gewissen News-Wert besessen hätte – also, warum zitiert man ausgerechnet diesen Tweet, wenn es nirgendwo im Text um die generelle Verrohung unserer Gesellschaft geht?

Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort darauf lautet natürlich: Klickbait. Seien wir mal ehrlich: Am Liebsten würden die Seiten ihre Geschichten mit „Darüber kotzt das Netz“ überschreiben. Das aber verbietet der Anstand. Also zitiert man die unappetitlichen vebalen Ausscheidungen diejenigen, die über eben jenen nicht verfügen und erhofft sich so viele Leser und in Folge viele zahlende Werbekunden.

Und im Nebenzug erweist man in diesem konkreten Falle Julia Klöckner noch einen Gefallen. Was ihr gewieftes Team nämlich wusste: Eine solche falsche Gewichtung ist die exakt richtige Vorlage für eine tiptop Verteidigungsstrategie. Wenn nämlich schon bei den Profis in der Redaktion von xy.online ganz offensichtlich wenig Wissen darüber herrscht, wie repäsentativ dieses Gepöbel für die laufende Debatte „im Netz“ ist – dann wissen die Leute da draußen das erst recht nicht. Also sprach die Ministerin, der zu große Nähe zur Industrie und zu großer Abstand zu den Verbrauchern vorgeworfen wurd,e von „Hatern“. Und versuchte so, die Debatte downzugraden auf das, was ja eh immer „im Netz“ los ist: Hass, Häme, substanzlose Kanalisierung von orientierungsloser Unzufriedenheit.

Das Netz kotzt. Und Kenner des Netzes gleich mit.

Twitter Blue – aka: Happy Women’s Day!

(Kitschiger ist schwierig.)

Eigentlich wollte ich das in der nächsten Kolumne verbraten, aber es ist erstens zu nischig, als dass es die Leserschaft von tonline über die Maßen interessieren dürfte (ich möchte da ehrlich sein: Warum sollte ich mir meinen erfreulichen Klick-Schnitt versauen?), und zweitens ist es auch zu amüsant. Es brennt mir unter den Nägeln, also jetzt schon mal. Hier in Berlin ist Feiertag (und allein die Tatsache, in diesem Bundesland zu wohnen und andersrum als sonst IMMER einen Feiertag zu haben, während andere den nicht haben, ist für mich Motivation genug, das mal schriftlich festzuhalten), ich warte auf Rückrufe aus STÄDTEN, DIE HEUTE KEINEN FEIERTAG haben, also hab ich Zeit und nutze sie. Kurz zum Anlass des Feiertages, DEN NUR WIR HEUTE HABEN: Es ist Frauentag. Natürlich diskutiere ich Sinn und Unsinn nicht, ich schreibe ja auch keine peinlichen Bücher über supertolle Männer, die viel Geld und Macht haben. „Rage bait“ las ich heute irgendwo dazu als Überschrift, und nickte heftig. Ich glaube, mit jeder Rezension, und sei sie noch so beschämend für die beiden Autorinnen, erreichen diese plus der aus sicherlich guten Gründen nicht ganz so namhafte Verlag dahinter ihr Ziel.

(Sieh mal eine an: Ich dachte, ich hätte nicht mehr so Lust zu bloggen, und nun zerfasere ich. Womöglich ein Schrei meines Unterbewusstseins, doch wieder regelmäßiger hier zu schreiben. „Aber stell mal auf Schwarz-Weiß um“, sagte jüngst Lieblingscutterin Annette, womit sie nicht die inhaltliche Ausrichtung meinte, sondern die optische. Ich weiß, sie hat Recht. Muss aber noch mal kramen, wie ich einst das aktuelle und nicht so lesefreundliche Layout einstellte.)

Zurück zum Thema (ha ha, als wäre ich da schon gewesen. Aber: Mein Blog, mein Langatmigkeitsgrad.). Heute ist Frauentag, und nachdem ich vergangene Woche von einem Freund gesagt bekam, ich würde ja „echt gut aussehen im Video zum Podcast von Stephan Anpalagan“, hat sich meine Ratlosigkeit noch mal vergrößert. Ich hab nix dagegen, gut auszusehen, so isses ja nicht. Aber erstens ist das unser gemeinsamer Podcast (wenn Sie hören möchten: hier entlang, wir freuen uns!), und zweitens: Ach, muss ich ja sicher nicht erklären. Oder lieber doch, mit einer Analogie: Ich möchte bitte zum Frauentag keine Rose und ne Flasche Prosetscho. Danke.

Nun, der Freund sei hiermit entschuldigt, er hat viel um die Ohren. Werfen wir lieber mal einen Blick auf Männer, die ich auch in allergrößter sozialer Not und Bedürftigkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie als meine Freunde bezeichnen würde: die Nutzer von Twitter Blue. Ich habe gleich mehrere Fragen und empfehle, sie sich in einer Stimmlage zwischen Belustigung und Baffheit vorzustellen.

Leute, was sind denn das für Menschen? Und, Stichwort Bedürftigkeit: Wie nötig kann man es haben? Sowie: Wie wenig Gespür kann man denn für Bumerang-Effekte besitzen? Man wirkt ja nicht relevant, wenn man das Ding besitzt, sondern wie jemand, der so gerne relevant wäre und das obendrein festmacht an so einem Haken. Streisand-Effekt trifft auch zu, fällt mir auf. Weiter. Für wie doof hält man denn auch andere Leute, dass man glaubt, die lassen sich von so einem Ding blenden und nehmen plötzlich an, dass Inhalte dahinter zurückfallen? Letzte Frage: Warum sind das fast alles Männer?

Kurz was anderes: Kennen Sie den Begriff „Schnitzelkind“? Das meint dermaßen unbeliebte Kinder, dass man ihnen ein Schnitzel um den Hals hängt. Dann spielen wenigstens Hunde mit ihnen. Keine Ahnung, wie ich da jetzt drauf komme.

Happy Frauentag!

Christine Lambrecht

So wie es aussieht, geht Christine Lambrecht. Nein, sie geht nicht, sie tritt. Zurück. Nachzutreten wäre jetzt billig. Es lassen sich aber Lehren ziehen aus ihrem Social Media-Verhalten als Ministerin. Denn gestolpert ist sie (auch) darüber.

Erstens: Überlegen, warum man Social Media nutzt.

Zweitens: Social Media ist in einem Punkt anders als klassische Medien: Man kann die Leute von dort aus lockerer ansprechen. Man sollte sie sogar lockerer ansprechen. Es bringt weder Usern und – daraus folgend – noch Accountinhabern Zusatznutzen, wenn auf Twitter oder Instagram genau so kommuniziert wird wie in mündlichen oder schriftlichen Pressestatements. Die gute Nachricht: Der Grat zwischen „locker ansprechen“ und „sich anbiedern“ ist nicht so schmal, dass man zwangsläufig ausrutscht. Das Schlüsselwort lautet „authentisch“. Kein schönes Wort, ich weiß. Abgelutscht und oft missbraucht, aber: Kein Wort beschreibt Authentizität besser als „authentisch“.

Drittens: Social Media ist auch in einem anderen Punkt anders als die klassischen Medien: Niemand erwartet perfekte Ausleuchtung, das sterile Ambiente eines Fernsehstudios, fancy Schnitte oder sonstige Perfektion. Einzige Ausnahme: der Ton im Sinne von: Akustik.

Viertens: Der Inhalt muss aber sitzen. Spontan, impulsiv, authentisch – sie alle sind nicht das Gegenteil von „nicht perfekt“. Dieser Irrglaube hält sich hartnäckig. Sich beispielsweise als Ministerpräsident an einer Tanke zu filmen, ohne Stab, ohne Jacket, ohne Krawatte, dabei wütend zu wirken, als wäre diese Aktion eine spontane, impulsive Handlung ohne Vorbereitung, ohne Strategie, ohne Kalkül – das wirkt, wenn man es gut macht, authentisch. Verunglimpft man aber in diesem Video unabsichtlich Menschen, die wenig Geld verdienen, das ist peinlich – und, ganz pragmatisch: strategisch relativ schlecht. Dann gab es womöglich wirklich kein Drehbuch. Und keine Beratung im Vorfeld.

Und damit sind wir bei Punkt 5: das Vier-Augen-Prinzip. Hat sich über Jahrhunderte bewährt, lange vor Social Media. Und besitzt weiterhin Gültigkeit aus naheliegender Gründen. Am besten lässt man jemanden drüber schauen, der einem wohlgesonnen ist und dementsprechend ehrlich. Und sagt: „Besser, du sprichst nicht ausschließlich über dich, wenn du den Krieg in der Ukraine erwähnst, und über die Vorteile, die er dir gebracht hat. Die Leute könnten das richtig falsch verstehen.“

Sechstens: Die Vier-Augen-Regel ist nicht so wichtig, weil: Ist ja nur Internet? Genau deshalb nicht. Nichts versendet sich mehr, wie man lange zu sagen pflegte – und nichts sendet sich dermaßen unkompliziert ganz schnell weiter, potenziert, wie ein Video oder ein Post aus dem oder im Web. Goldene Regel deshalb: Social Media nie unterschätzen – und ebenso wenig die Leute, die sich damit beschäftigen. Weder die Profis (selbst, wenn sie 40 Jahre jünger sind als man selbst. Die kennen keine Welt ohne), noch die Konsumenten. Und erst recht nicht die Wucht.

Nicht Musk ist das Problem. Wir sind es.

Es ist noch nicht raus, ob Elon Musk nun aufhört als Twitter-Chef oder nicht. Obwohl ich nicht langsam tippe, kann das bis zum Ende dieses Beitrags schon anders aussehen. Zu schreiben, dass Musk erratisch handelt, lässt mich nach nur sieben Wochen mit dem Milliardär an der Spitze des sozialen Netzwerks vor Langeweile beinahe in Sekundenschlaf fallen. Es ist eine Binse, trotz der Kürze der Zeit, in der er dies unter Beweis stellt.

Vor allem aber ist es egal, ob Musk weiter die Geschicke lenkt oder nicht. Es wäre sogar egal, wenn er den Laden direkt wieder verkauft. Denn ein paar Lehren, die wir aus dem Desaster ziehen können, haben wenig mit ihm zu tun. Sondern mehr mit Usern. Egal, wo sie sich tummeln. Und diese Lehren verheißen nichts Gutes.

1. Wir Menschen sind unfassbar naiv. Bis heute finden sich Fanboys (wenn auch in mittlerweile massiv geschrumpfter Zahl), die einen Plan sehen. Ganz zu Beginn der Musk-„Ära“ antwortete jemand auf meinen Tweet, er sei wirklich erstaunt, dass so viele Journalisten die Strategie hinter Musks Vorgehen nicht erkennen würden. Ich bin froh, dass so gut wie keiner der Journalisten, die ich vorher ernstgenommen habe, diese Strategie erkannt haben. Es gibt nämlich keine. Das räumt inzwischen sogar Frank Thelen ein, obwohl der sich in den vergangenen Wochen nicht minder blamiert hat als „Elon“, wie er ihn, beharrlich peinlich Augenhöhe suggerierend, nennt.

2. Wir Menschen bleiben naiv. Nun gehen also ein paar zu Mastodon. Weil dort angeblich alles besser ist als bei Twitter. Da war aber auch so gut wie nie alles gut – dazu gleich mehr – und noch wichtiger: Mastodon weist eklatante Mängel auf. Wie Ann Cathrin Riedel in ihrem Newsletter schreibt, fällt Mastodon zurzeit weder unter das NetzDG noch gilt der DSA.*

Dass intransparent und insofern demokratisch wenig legitimiert ist, wer wann wieso gesperrt wird, wurde ja inzwischen schon öfter betont.

3. Wir Menschen haben kein gutes Mittel- bis Langzeitgedächtnis. Beim Studium der aktuellen Berichterstattung über Twitter unter Musk gewinnt man den Eindruck, dass unter Jack Dorsey alles tippitoppi war. Hass und Hetze Randphänomene, Bots ein zu vernachlässigendes Problem, der Kampf der Plattform gegen solche Auswüchse im Großen und Ganzen erfolgreich. Kurz und knapp formuliert: Es war alles gut, jetzt ist alles schlecht. Das ist halt Quatsch. Es war nicht allzu gut, vieles war überhaupt nicht gut, und jetzt ist es schlimmer geworden.

Unterm Strich macht das nicht viel Hoffnung, zumal keine Alternative zu Twitter am Horizont erscheinen mag. Wie weit wir von der in den letzten Wochen so oft herbeigewünschten zum Beispiel öffentlich-rechtlichen Gegenlösung entfernt sind, zeigt das Streitgespräch im aktuellen Spiegel zwischen Noch-ARD-Chef Tom Buhrow und seinem Nachfolger, SWR-Intendant Kai Gniffke: Der sagt doch allen Ernstes, der ÖRR dürfe sich nicht abhängig machen von sozialen Netzwerken. Tja. Schade. In Teilen ist dieser Zug längst abgefahren.

Macht aber nix: Es ist schwierig, in diesen Tagen altbacken zu wirken – zumindest neben dem Ministerium für Infrastruktur und – ACHTUNG: Digitales! – von Sachsen-Anhalt: Das hat sich vergangene Woche einen Twitter-Account zugelegt. Keine Ahnung, wie ich jetzt drauf komme, aber ich hätt mal wieder Lust auf „Good Bye Lenin!“

* Eine sehr lesenswerte Ausgabe, wenngleich ich über zwei Punkte gestolpert bin: Erstens ist die Ursache für das AquaDom-Desaster noch nicht geklärt. Und zweitens geht die Arbeit von uns Journalisten über das bloße Schreiben ja sehr hinaus, weswegen ich die Fragestellung zu ChatCPT irreführend und kurz gegriffen finde.

2022, an zwei Schicksalen erzählt.

Margit.

Margit ist eine liebe Bekannte in den Sechzigern. Zwei ihrer Kinder und vier Enkel leben in Japan. Letztes Jahr (Corona) musste Margit zittern und dann sehr kurzfristig abreisen, um ihre Liebsten über Weihnachten sehen zu können: Die japanische Botschaft rief sie an und sagte: „Sie haben ja Ihr Visum. Reisen Sie lieber jetzt, das Zeitfenster schließt sich vermutlich schnell wieder. Bald kommt niemand mehr rein!“

Dieses Jahr ist das nicht so kompliziert. Japan ist auch gelassener geworden, die Zahlen und die Schwere der Infektionen geben das aus Sicht der Regierung her. Heute Morgen ist Margit abgereist in Richtung Tokio. 15 Stunden wird sie insgesamt in Flugzeugen sitzen. Dazu gleich noch mehr.

Eigentlich wollte sie sich am Samstag von ihrem dritten Kind, ihrem Sohn, und seiner Familie, die hier in Berlin leben, verabschieden. Ging nicht: Seine Frau und alle drei Kinder haben seit einer Woche 40 Fieber. Kein Arzt kommt. Ins Krankenhaus wollen sie nicht, weil ihnen dort nach Aussage am Telefon bis zu 12 Stunden Wartezeit drohen. Die Familie hat ein Wochenendhaus auf dem Land. Werde es bis Mitte dieser Woche nicht besser, packe er die vier Patienten ins Auto und fahre mit ihnen dort hin, sagt Margits Sohn. Dort seien die Kliniken und Praxen vielleicht nicht so überlaufen. Hier in Berlin müsse man in Anbetracht einer Warteschlange auf dem Bürgersteig inzwischen schon raten: Kinderarztpraxis oder Wohnungsbesichtigung?

15 Stunden also wird Margit unterwegs sein. Normalerweise kostet sie die Reise neun Stunden. Jetzt aber herrscht Krieg. Die Route spart Russland aus.

Anna.


Anna ist meine Friseurin. In den Hochzeiten von Corona wurde es eng für sie. Der Laden verschlang weiterhin Miete, brachte aber keine Einnahmen. Anna schrieb ihre Kunden irgendwann an und bat um Spenden, um den Salon weiter halten zu können. Es klappte.
Anna öffnete den Laden wieder, als es ging. Verlor eine Mitarbeiterin, die sich inzwischen anderweitig orientiert hatte. Nicht innerhalb der Branche; sie arbeitet jetzt nicht mehr als Friseurin. Eine gute Nachfolge fand Anna nicht. Der Fachkräftemangel – und: die hohen Mieten. Die sind dort, wo Annas Laden sitzt, sehr hoch. Anders als das Einkommen als Friseurin. Sprich: Die Arbeitswege sind weit. Da fangen die Leute lieber im Salon im selben Kiez an, in dem sie auch wohnen.

Und auch als es keine Lockdowns mehr gab, gab es dennoch noch Corona. Kunden, die sehr kurzfristig absagten. Also unabsehbare Einnamen bzw. wegbrechende Einnahmen. Anna legte deshalb ihre Kunden immer möglichst auf einen Tag. Und wenn dann in der Kita ihrer kleinen Tochter wieder Ausnahmezustand herrschte und Anna ihr Kind zu Hause betreuen musste, brach direkt ein Batzen Geld weg.

Dann kam die Energiekrise. Anna musste die Preise erhöhen. Und hatte wieder Sorgen, dass Kunden das nicht mitmachen.

Die absurdeste Digitalgeschichte 2022

F., der Mann meiner Freundin N., hat sein Abo für den Öffentlichen Personennahverkehr bei der hiesigen Verkehrsgesellschaft (BVG) gekündigt. Und wollte das dann wieder rückgängig machen. Freundin N. schilderte mir den Vorgang heute via Sprachnachricht. Diese habe ich transkribiert. Lesen Sie im Folgenden den Super-GAU: Wenn Berlin auf Digitalisierung trifft. Spoiler: Zwei Minus ergeben nicht immer automatisch ein Plus.

„Ich hab deine Kolumne gelesen zur Digitalisierung. Da musste ich heute dran denken, als F. mir erzählt hat, wie das mit seinem BVG-Abo gelaufen ist. Er hat es gekündigt, dann wollte er die Kündigung zurücknehmen. Dann hat er eine Mail geschrieben an info@bvg.de, weil er auf deren Seite diese Mailadresse gefunden hat. Dann hat er eine Eingangsbestätigung bekommen und nichts mehr gehört. Dann hat er heute noch mal auf seinen Account geguckt und fand dort plötzlich einen Button ‚Kündigung stornieren‘. Darauf hat er geklickt. Daraufhin ist nichts passiert. Dann hat er lange auf der Seite gesucht, bis er eine Nummer gefunden hat, wo er anrufen konnte. Da kam er beim ersten Mal zu einer Bandansage, wo gesagt wurde: ‚Wählen Sie die 2, wenn Sie eine Person sprechen wollen‘, dann drückte er die 2. Dann kam er wieder zu einer Bandansage zurück, wo gesagt wurde: ‚Drücken Sie die 1 oder die 3, hier ist Ihre freundliche Telefonstimme‘, also ist quasi nichts passiert. Dann hat er noch mal angerufen, unter derselben Nummer. Da kam dann eine andere Bandansage, und er wurde tatsächlich zu einer Person durchgestellt, die ihm dann erzählt hat, dass die Mailadresse info@bvg.de gar nicht mehr aktiv ist und ins Leere läuft. Als F. dann gesagt hat, dass die aber im Impressum steht, sagte der Mensch am Telefon: ‚Ach ja, das muss ich mal weitergeben‘, und irgendwie hat es dann funktioniert, aber er musste auch mit seiner Kundennummer etwas rumspielen, weil die angegebene Kundennummer nur dann funktioniert hat, wenn man die ersten vier Ziffern weggelassen hat.“

Pöbeln, aber richtig

  1. Sie wollen jemandem nachweisen, dass er oder sie mit zweierlei Maß misst? Recherchieren Sie.
  2. Sie wollen jemandem nachweisen, dass er oder sie einen Fehler gemacht hat? Recherchieren Sie.
  3. Sie wollen jemandem nachweisen, dass er oder sie etwas verschweigt? Recherchieren Sie.
  4. Sie wollen jemandem nachweisen, dass er oder sie sich selbst widerspricht? Recherchieren Sie.
  5. Sie wollen jemandem nachweisen, dass Sie cleverer sind als er oder sie? Seien Sie es.
  6. Sie wollen jemandem ausschließlich aus Antipathie einen reindrücken? Verzichten Sie auf die Recherche. Zeitverschwendung. Ihnen werden trotzdem Leute applaudieren.
  7. Sie wollen einfach nur Recht behalten? Verzichten Sie auf die Recherche. Zeitverschwendung. Ihnen werden trotzdem Leute applaudieren.
  8. Sie wollen einfach nur Applaus? Dann ist egal, was Sie schreiben. Entscheidend ist das Wie. Direkt angreifen, Behauptung aufstellen, die irgendwelches Schubladen-Denken erfüllt – wenn nicht, auch nicht so schlimm – und entschlossene Satzzeichen verwenden. Punkte oder gar Fragezeichen sind was für Mastodon.
  9. Sie wollen Applaus von den billigen Plätzen? Berücksichtigen Sie Punkt 8, addieren Sie ressentimentgeladene Aussagen und vermeiden Sie Fremdwörter wie „Ressentiment“.
  10. Ihnen ist es nicht egal, woher der Applaus kommt? Befolgen Sie die Punkte 1 bis 5. Und, ganz wichtig auch: Können Sie diese nicht befolgen, twittern Sie nicht. Fällt schwer, ist aber möglich.
  11. Sie wollen sich komplett zum Idioten machen? Vermeiden Sie unbedingt die Punkte 1 bis 5.
  12. Sie wollen sich noch mehr zum Idioten machen? Geben Sie sich den Anschein, die Punkte 1 bis 5 berücksichtigt zu haben. Liefert Ihnen jemand den Gegenbeiweis, stellen Sie halt auf Durchzug. Twittern Sie weiter, aber einfach nicht mehr direkt mit oder zu der von Ihnen angepöbelten Person. Ihnen werden trotzdem Leute applaudieren.

Nazis raus oder rein? Elon Musk, die 300.

Ein bisschen hat es ja nun doch gedauert, bis Elon Musk Kanye West bei Twitter gesperrt hat. (Moooomentchen – ja, Stand jetzt, 3. Dezember, 16:48 Uhr, ist er noch gesperrt. Man muss schwer auf Zack sein, seitdem Musk Twitter leitet, und das ist nicht als Kompliment gemeint.)

Adidas war schon früher auf die Idee gekommen, sich von West zu trennen. Musk hatte den aufgrund antisemitischer Tweets gesperrten „Ye“ wieder zurückgelassen auf die Plattform. Jetzt aber hat West in einem bizarren Interview durchaus lobende Worte für Adolf Hitler gefunden und er hat ein Hakenkreuz in Verbindung mit einem Davidstern getwittert, sodass dass er derzeit (!) nicht mehr mitmachen darf. „Aufruf zur Gewalt“, lautet der Grund.

Eine gute Idee von Elon Musk. Nazi-Symbole und -Parolen, Antisemitismus – geht nicht. Mark Zuckerberg hat nach jahrelanger Weigerung dann doch irgendwann eingesehen, dass die Leugnung des Holocaust in den USA zwar legal ist, er sie aber trotzdem auf seinen Plattformen in Anbetracht des weltweit wachsenden Antisemitismus nicht weiter dulden sollte.

Also, noch mal: West zu sperren, ist eine gute Idee von Elon Musk.

Aber.

Lassen wir hier mal beiseite, dass West an einer bipolaren Störung leidet und nach Einschätzung mancher nicht mehr an dem gemessen werden darf, was er sagt. (Ich möchte das nicht anzweifeln, um das deutlich zu machen, und ich möchte eine solche Erkrankung auch nicht kleinreden. Es ist hier nur nicht entscheidend.)

Und lassen wir auch mal beiseite, dass Musk ja bekannt dafür ist, Entscheidungen schnell und schmutzig, oder sagen wir es deutlich: Gerne wohl dermaßen überhastet zu treffen, dass er sie dann auch rasch wieder rückgängig macht. Es ist jetzt schon legendär, dass er Leute wieder einstellen wollte/musste, die er nur wenige Tage zuvor gefeuert hatte. Legendär. Dabei ist es gerade mal fünf Wochen und ein paar Zerquetschte her, dass er mit einem Waschbecken in der Twitter-Zentrale einmarschierte.

Der entscheidende Punkt ist: Warum lässt Musk dann im Rahmen seiner via Twitter-Umfrage entschiedenen Amnestie führende Neonazis zurück auf seine Plattform, wie der Rolling Stone berichtet? Darunter einer, der schreibt, viele Menschen seien der Ansicht, „die Juden sollten ausgerottet werden“ (ein einigermaßen kluger Schachzug, es so zu formulieren, als würde er nicht zu diesen Leuten gehören, dabei aber offen zu lassen, wie er zu dieser unglaublichen Aussage steht. Eine Verdammung lese ich da nicht raus. Im Kontext damit, dass er laut Rolling Stone regelmäßig den Holocaust leugnet, fällt mir das noch schwerer. Außerdem schrieb der Mann 2018, er hasse Frauen. Sie gehörten vergewaltigt und in Käfige gesperrt.

Aufruf zur Gewalt? Ist das anscheinend nicht.

Er und andere sind nun also wieder da. Vielleicht bin ich zu spitzfindig, aber ist da der Schritt zur Relativierung von Adolf Hitler dermaßen groß, dass man Kanye West sperren, solche Leute aber – nein, die Frage muss ich nicht zu Ende stellen, sie ist ja absurd genug.

Es ist nicht nachvollziehbar. Es ist nicht so, dass Twitter Accounts sperrt, die gegen die Regeln verstoßen. Das liest man zwar aktuell, ruft man Wests Account auf. Aber es scheint ja keine allgemeingültigen Regeln mehr zu geben, keine objektiven Maßstäbe. Jemand lenkt Twitter, der sich rationalen Gedankengängen und Entscheidungen nicht verbunden fühlt. Man muss das immer wieder festhalten, damit es sich nicht abnutzt. Denn das ist brandgefährlich.