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Im Freibad – eine Menschenbetrachtung

Sonntag war ich im Freibad. Zum zweiten Mal überhaupt in meiner 17-jährigen Berlin-Zeit. Freibad – das ist hier nicht nur eine aktive Entscheidung für Massengedränge, sondern im ungünstigsten Fall auch für Massenschlägerei. Wenn man Glück hat, lediglich als Zuschauer. Ich wiederhole: Wenn man Glück hat.

Eigentlich sollte es Sonntag zum See gehen, das ist ja die Alternative für uns in der Hauptstadt. Da ich aber Samstag komplett flach lag, hatten die Freunde sich in Erwartung meiner Abwesenheit und mit Blick auf ihre Ablehnung von JWD-Aufenthalten statt für den See lieber fürs Freibad entschieden. Als ich nun am Sonntag überraschenderweise wie ein junges Reh aus dem Bett sprang (oder wie ein Kleinkind, die regenerieren ja auch gerne im Speedy Gonzales-Tempo), war der Freibad-Entschluss schon gefasst. Ich schloss mich an.

Weite Teile meiner Jugend habe ich im Freibad verbracht, genauer: im Gütersloher Nordbad. Mit dem Rad brauchte ich von meinem Elternhaus dorthin 5 Minuten, die Jahreskarte kostete 80 Mark, und das war gut investiertes Geld in meine Glückseligkeit.

In disziplinierten Zeiten ging ich morgens um 6 vor der Schule mit meiner Freundin Christina schwimmen. Die Sonne stand noch tief, wir schwammen zwischen älteren Leuten (vermutlich das Alter, das wir inzwischen erreicht haben, aber lassen wir das), und brachten unseren Familien auf dem Rückweg Brötchen mit.

Nachmittags nach den Hausaufgaben fuhr ich wieder hin, klingelte bei meiner direkt gegenüber wohnenden Freundin Eva (beste Lage, damals meine Meinung), und wir gingen rüber. Und legten uns zu irgendwem dazu. Im Laufe eines solchen Nachmittags wuchs die Gruppe auf im Schnitt 20 Leute. Mit vielen hatte ich außerhalb des Nordbad nichts zu tun. Das hier war unsere gemeinsame Welt.

Wir waren Teenies in einer mittelgroßen Stadt mit exakt einem Freibad. Das heißt wir kannten quasi alle, und alle kannten uns. Niemand musste sich verabreden, das Bad war offen, wir waren dort, in den Ferien schon am Vormittag. Leute fuhren mit ihren Eltern oder Freizeiten in den Urlaub, kamen zurück, erzählten Neuigkeiten, erfuhren Neuigkeiten.

Wir ernährten uns von Pommes, Ketchup-Brötchen, gemischten Tüten für eine Mark 50 und von Cola-Eis. Irgendeiner hatte immer einen Ghetto-Bluster dabei, und wenn der nicht lief, raschelten die großen, alten Bäume im Wind oder schepperte die Lautsprecheranlage, weil Bademeister „Hölzchen“ (weil er so trockene, braune Haut hatte) jemanden zusammenstauchte. Diese Ermahnungen drangen bei entsprechenden Windverhältnissen bis auf den Balkon meiner Eltern. Hörte ich sie dort, erfasste mich augenblicklich Fomo (fear of missing out).

Selten war ich so folgsam wie während der Sommermonate: Im Hausarrest alleine vor mich hinzubrüten, während die „Clique“ zusammen im Bad lag, der große, schwere Junge namens Hippo (Jugendliche können grausam sein) zu aller Vergnügen einen Labello verspeiste oder der Riesenkrach zwischen dem schönen Sven und seiner Monika öffentlich ausgetragen wurde – blanke Horrorvorstellung.

Alles popkulturell Relevante lernte ich im Nordbad: dass REM gute Musik machten. Blue System nicht, aber dass die gleichnamige Klamottenmarke wichtig war. Dass man Stephen King lesen musste und Italo Pop maximal während des Urlaubs oder anschließend heimlich zu Hause ok war. Wer Nick Cave war, lernte ich, und wie man 501er richtig eintrug und möglichst lässig vom 10er sprang (nicht die Nase zuhalten). Ich erlebte das Leben in einer Familie mit einer alleinerziehenden Mutter zweier Kinder (meine Freundin Eva und ihr Bruder Philipp) mit. Ohne feste Essenszeiten, ohne sonntägliche Kirchgänge, ohne viel Geld. Ohne perfekte Sauberkeit und tolle Möbel, dafür aber mit viel Gelassenheit. Und ich lernte die unterschiedlichen Kategorien von Freibadtypen kennen.

1. Die Bahnenschwimmer: Bahnenschwimmer haben ein festes Ziel vor Augen. Sie sind geradeaus unterwegs, schwimmen Hindernissen im Zweifel ohne großes Aufhebens aus dem Wege, bevorzugen aber die ungestörte Routine, in der sie wiederum andere nicht stören. Sie ziehen tiefe Befriedigung aus gleichbleibendem Tempo und moderater, regelmäßiger Anstrengung. Bahnenschwimmer sind klug. Nach 10 Uhr morgens oder vor 18:30 Uhr unter der Woche meiden sie das Freibad. Man ist ja nicht bescheuert, sondern fokussiert und unaufgeregt.

2. Anders die Wochenendbesucher: Wochenendbesucher wollen vor allem eines: Entschädigung für die Arbeitswoche. Sie suchen nach der größtmöglichen Schnittmenge aus Entspannung, Vergnügen, körperlicher Ertüchtigung und kulinarischer Sünde in Form von Pommes Schranke. Sie kollidieren mit Typ 3, Familien, und Typ 4, den Arschbombern, was zu Lasten der körperlichen Ertüchtigung und Entspannung geht, geben die Hoffnung aber nicht auf und integrieren deshalb ihre teilweise Enttäuschung ins Freibaderlebnis, die im Laufe einer Woche ohnehin verblasst.

3. Familien: Familienväter und -mütter haben in der Regel ein gutes Gedächtnis, aber keine guten Argumente gegen die Sehnsüchte ihrer Kinder sowie die eigene Nostalgie – oder aber gegen das große Fragezeichen, wie man am besten Zeit mit Kindern verbringt und diese am Abend möglichst müdegespielt hat. Die Folge sind entweder Erwachsene, die in vollgepinkelten Plantschbecken sitzen und dem Nachwuchs entzückt bei den ersten Wasserspielchen zuschauen, oder aber frierend im Nichtschwimmerbecken stehen, wo sie versuchen, möglichst wenig getreten oder angesprungen zu werden. In der Regel heult auch immer jemand und muss in seiner Empörung heruntergeschraubt werden. Entweder hat das Geschwister mehr Pommes, Mama die Frisbee zu Hause vergessen oder das Wasser unerwartete Auswirkungen.

4. Die Arschbomber: Von Hormonen durchtoste Jungs, die Mädchen und andere Jungs beeindrucken wollen. Wahlweise werden dafür Bademeister provoziert oder aber Frauen, deren Haare nicht nass werden dürfen, oder vulgäre Parolen mitten im Sprung gebrüllt. Manche lassen diese Phase nie hinter sich.

5. Teenie-Mädchen: Entweder auch Arschbomber oder junge Damen, die am Beckenrand sitzen und nicht nass werden wollen. Mit ersteren geht man ein paar Jahre später Bier trinken, mit zweiteren shoppen. Mit den Tollen geht beides.

6. Pärchen: Liegen eng zusammen, spüren ob knapper Begkleidung ihre Gefühle, vergessen mitunter, dass sie nicht zu Hause sind. Wenn ihnen stilistisch wirklich alles egal ist, spielen sie die Wasserszene aus „Dirty Dancing“ nach.

Welche Typen ich am Sonntag gesehen habe? Zuallererst Security. Berlin halt. Und ab da weiß ich nicht mehr. Es war sehr, sehr voll. Und es gab keine Massenschlägerei. Alles andere war mir egal. Und, ganz ehrlich: All diese Kategorie Menschen treffe ich doch auch außerhalb des Freibads.

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Julian Reichelts Kurzstreckenflug

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Julian Reichelt ist jemand, den findet man entweder dermaßen freidrehend und indiskutabel, dass man wenig mehr dazu sagen muss und möchte, weil das Leben kurz ist und Reife sich unter anderem in der Fähigkeit zeigt, sich auf positive, konstruktive Seiten unseres ja eben endlichen Daseins zu konzentrieren. Oder aber man findet Julian Reichelt total super. Es mag an meiner Timeline liegen, die ich sorgfältig kuratiert habe, denn das Leben ist kurz, siehe oben. Oder daran, dass Julian Reichelt freidrehend und indiskutabel ist und das für den Salon irgendwann nicht mehr ausreichend genug verstecken konnte – in meiner Timeline jedenfalls stellen die Reichelt-Fans eine verschwindend geringe Minderheit dar.

Das ist für diese Geschichte aber völlig egal. Finde ich zumindest. Denn ob man etwas richtig oder falsch findet, sollte ja – Stichwort: Reife – nicht davon abhängen, wer es tut oder nicht tut.

Julian Reichelt ist also Kurzstrecke geflogen. Und hat sich über seine lange Wartezeit aufgeregt. Einer der am meisten beachteten und bejubelten Tweets dazu:

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Ein in mehrfacher Hinsicht phänotypischer Tweet. Punkt 1: Kurzer Satz, klare Ansage. Punkt 2: Die Absenderin haut drauf. Dafür wurde Social Media zwar nicht erfunden, wohl aber darauf programmiert. Und, Punkt 3, dankbarerweise haut sie drauf auf jemanden, der es aus Sicht Vieler mehr als verdient hat. 24/7.

Julian Reichelt hat eine lange Zeit sehr viel Geld damit verdient, draufzuhauen. Draufzuhauen im Sinne von wohlkalkuliert wild draufzuprügeln. Ohne Skrupel. Also kriegt er jetzt auch einen ab, die Vorlage ist so steil, steiler geht nicht.

„When they go low, gehen wir eben auch low, was soll’s“ – eine in den sozialen Medien ja nicht komplett unverbreitete Denke. Wir ächzen alle unter der Hitze – Stichwort: Klimawandel – und sind dankbar für möglichst geringe Komplexität. Kurzstreckenflüge sind schlecht – Stichwort: Klimawandel, Julian Reichelt ist schlecht. Man muss sich geistig nicht anstrengen, weder beim Thema noch beim Sender-Empfänger-Schema. Hallelujah!

Was die Antwort auf seinen Tweet ebenfalls erfolgreich macht: Reichelt ist böse, die Absenderin nicht.

Das aber führt in eine Bredouille, zumindest Twitter-Süchtige aufmerksame Twitter-Konsumenten. Denn nicht nur Julian Reichelt fliegt Kurzstrecke bzw. versucht es.

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Von Deutschland nach Wien, war der Plan. Kurzstrecke. Hinter dem Plan steckt Natascha Strobl. Strobl, österreichische Politikwissenschaftlerin und Autorin, gehört zu den Hassobjekten der Rechten. Weil Strobl sie chirurgisch analysiert, ihre Mechanismen erklärt und ihnen die Stirn bietet. Wem sie nicht die Stirn bieten musste: derselben Bubble, die Julian Reichelt verurteilt. Ich betone: für seinen Kurzstreckenflug. Es gibt sehr viele andere Punkte, für die Julian Reichelt krtisiert wird, aber hier geht es ja eindeutig um seinen Kurzstreckenflug. Und der einzige Unterschied zwischen ihm und Natascha Strob ist der, dass seiner nicht gestrichen wurde. Natascha Strobl bekam natürlich auch etwas ab, aber nicht allzu viel. Wohl aber viel Zustimmung hierfür:

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Ich habe keine Ahnung, warum Julian Reichelt Kurzstrecke geflogen ist. Vielleicht ist ihm alles egal. Der Gedanke liegt nahe, betrachtet man diese seine Tat im Kontext anderer seiner Taten. Kann aber ja auch sein, dass er gute Gründe hatte. Ich bin zum Beispiel kürzlich morgens von Berlin zu einer Konferenz in München hin- und nachmittags wieder zurückgeflogen. Weil ich pünktlich sein musste. Weil ich vor Ort sein musste, der Veranstalter bestand drauf. Weil ich bei alle drei Bahnfahrten zuvor nicht pünktlich war. Unter anderem kam ich – auf der direkten und nicht allzu langen Strecke von Berlin nach Dresden – zu meiner eigenen Lesung zu spät. Und das fand ich äußerst unangenehm den Leuten gegenüber, die ich warten lassen musste.

In München übernachten konnte und wollte ich nicht. Die Gründe dafür sind privat und gehen niemanden was an.

Und, wer bin ich jetzt? Julian Reichelt oder Natascha Strobl? Oder bin ich jemand, die fest von einem überzeugt ist: Wir müssen alle etwas ändern. Aber so kann man sich nicht benehmen. Das ist zu billig. Natascha Strobl twitterte übrigens, dass sie versprochen hatte, pünkltich (!) zur Geburtstagsparty ihres Sohnes zurück in Wien zu sein. Kann man das kritisieren? Ist das nicht ein guter Grund, zu fliegen?

Ich finde, schon. Aber: Meine Meinung ist doch völlig unerheblich. Wer bin ich denn, zu richten, wer wie oft wie weit oder kurz aus welchem Grund und aus welchem nicht fliegen darf? Und wer was verdient hat?

Wer ich bin: Jemand, die nicht in einer Welt leben will, in der wir uns jetzt voreinander rechtfertigen müssen, was wir essen, wie wir unsere Zeit managen, welche Prioritäten wir setzen. Wer tatsächlich glaube, dass das der Weg ist, hat den Glauben an sehr Vieles schon lange verloren. Nur nicht in seine eigene Unfehlbarkeit. Und an zweierlei Maß. Und daran, dass die Twitter-Polizei irgendeine relevante Größe ist. Kann man alles glauben. Ist aber intellektuelle Kurzstrecke.

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Eine Sehenswürdigkeit names Leben

Gestern war ich auf zwei Veranstaltungen. Erst auf einem Betriebsfest an einem Badesee mit Strand und Pommes und Musik. Danach auf einem sehr schicken Dinner mit ansprechendem Blumenschmuck, wie man sieht.

Heute hatte ich dann auch noch eine Mittagessenverabredung. Meine kommenden beiden Wochenenden sind verplant. Nicht mit AfD-Parteitagen, sondern mit Geselligkeit. Zwei Geburtstage hier in Berlin und eine Party in Friesland einfach so stehen da unter anderem im Kalender.

Für meine Verhältnisse ist das ein einziger Rausch. Ich bin damit binnen eines Quartals zirka so viel unterwegs und freiwillig außerhalb der Arbeit oder anderen klar definierten Zwecken unter Leuten wie sonst in den vergangenen vier Jahren zsammen.

Der Grund heißt: Corona.

Ich muss dieser Tage öfter an meine Umzüge von Hamburg nach München und später dann von München nach Berlin denken. In Hamburg lebte ich knapp fünf Jahre, in München immerhin fast eines. In beiden Städten nutzte ich die letzte Woche, um schnell alle Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Hatte ich vorher nicht getan, sondern alles als selbstverständlich und ja irgendwann mal dazwischenschiebbar abgespeichert.

So ähnlich habe ich die vergangenen Jahre gelebt. Ich war die Meisterin der Verabredungen im Geiste, die ich dann aber im echten Leben doch nicht getroffen habe. Das Wissen darum, zu können, wenn ich wollte, reichte mir. Ich wollte nicht.

Jetzt will ich aber. Denn demnächst ziehen wir ja vielleicht alle (mit alle meine ich: alle, die Verantwortung übrnehmen für sich und andere) wieder um ins Kontakbeschränkungen-Leben. Deshalb gucke ich mir jetzt möglichst viel an, was Spaß macht und ein warmes Herz. Und nehme im Rahmen meiner vernünftigen Möglichkeiten vor dem Hintergrund einer harmlosen aktuellen Variante vieles mit. Die Sehenswürdigkeit names Leben.

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Vor dem AfD-Parteitag

Morgen ganz früh fahre ich los. Nach Riesa in Sachsen. Da trifft sich die AfD, mit der ich beruflich viel zu tun habe, zum Bundesparteitag. Es ist der erste Parteitag, seitdem die gesamte AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall vom Bundesverfassungsschutz beobachtet wird. Und es ist der erste Parteitag, seitdem Jörg Meuthen als Chef hingeschmissen hat. Jetzt soll ein neuer, vielleicht sollen auch zwei neue gewählt werden, vielleicht sogar drei. Vielleicht bleibt Tino Chrupalla an der Spitze mit jemand anderem, sehr vielleicht tritt Björn Höcke an. Viel Kluges und Informatives ist im Vorfeld schon geschrieben worden, zum Beispiel hier. Empfehlen kann ich auch diesen interessanten Hintergrund zum Hören. Es gibt auch etwas Hintergründiges zum Gucken (Spoiler: von mir). Meine Kollegen und ich werden in den kommenden drei Tagen von vor Ort berichten.

Hier soll es jetzt aber um Parteitage als solche gehen.

Parteitage haben einen riesigen Vorteil: Man ist „draußen“. Raus aus der Redaktion, nah ran am Berichtsgegenstand. Den ganzen Tag lang hat man sehr viele von denen, über die man regelmäßig berichtet und die man für Interviews und O-Töne normalerweise anrufen muss und die dann oft gerade nicht verfügbar sind, direkt vor der Nase. Geballt. Verfügbar. Entweder für Gespräche vor Kameras und/oder Mikros, oder aber auch mal für fünf Minuten am Rande. Man sieht endlich mal bedeutende Teile der Partei als Gesamtkonstrukt. Als soziales Gebilde. Wer sitzt zwischendurch überraschenderweise mit wem zusammen, wer streicht durch die Reihen, wer könnte versuchen, zu kungeln? Das ist dann schon eher Denver Clan, Politikversion, als Telekolleg.

Dasselbe gilt für andere Journalisten aus anderen Häusern. Berichtet man seit Jahren über eine Partei, dann kennt man sich Mit den allermeisten arbeitet man freundlich zusammen, tauscht Infos aus. Klar, man steht auch in gewisser Konkurrenz zueinander, aber Hauen und Stechen gibt es nicht. Manchmal murrt jemand, wenn sich wer aus Versehen ins Bild schiebt. Schlimmer wirds nicht. Warum auch?

Parteitage haben eine Tagesordnung, die wiederum je nach Parteitagscharakter aus vielen Anträgen bestehen können oder aus vielen Kandidatenvorstellungen oder aus allem. Beides kann sehr, sehr zäh sein. Thrill geht anders; knisternde intellektuelle Erotik sucht man ebenfalls vergebens. Es ist eher Telekolleg Politik als Politkrimi. Sehr viel Zeit auf Parteitagen sitzt man mit dem Antragsbuch an einem Tisch, hört zu, notiert sich die Uhrzeit von Aussagen vorne auf der Bühne, von denen man meint, sie später für die Berichterstattung gebrauchen zu können.

Die Kunst ist, die ganze Zeit über konzentriert zu bleiben. Den Überblick über das oft sehr bürokratische Prozedere zu behalten. Änderungsanträge zu verfolgen, deren Ausgang, der manchmal erst nach Auszählung bekannt gegeben wird, wenn schon längst ein anderes Thema dran ist. Die Atmosphäre gleicht über Strecken der Jahreshauptversammlung eines Kaninchenzüchtervereins. Dann aber kann sich plötzlich alles schlagartig ändern. Dann geht man sich scheinbar plötzlich gegenseitig an und man befindet sich wie aus dem Nichts auf der Jahreshauptversammlung eines Vereins nicht mehr ganz dichter Kaninchenzüchter.

Vorher zu ahnen: Wo könnten Fallstricke sein, wer steckt weshalb hinter welchem Antrag, welche übergeordnete Agenda wird da verfolgt, wer schmiedet Allianzen – das klappt einigermaßen, wenn man schon länger dabei ist.

Aber auch nicht imme. Was Parteitage nämlich stets haben, ist das, was man Dynamik nennt. Stimmungen können entstehen, die den zwei- bis dreitägigen Veranstaltungen plötzlich einen vorher ungeahnten Spin geben. Wie sich das als Parteichef gehört, hielt Meuthen zum Beispiel in Kalkar eine Rede. Die es in sich hatte. Meuthen griff Teile seiner eigenen Partei aufs Schärfste an. Die Delegierten reagierten – quasi erst mal gar nicht. Ich kann es mir nur mit Schockstarre erklären. Dann aber, am darauffolgenden Tag, nachdem man sich hinter den kulissen ausgetauscht und formiert hatte, implodierte der Parteitag fast. Da gab es sehr viel Wut. Laute Reden an Saalmikrofonen, sowohl von Meuthengegnern als auch -befürwortern, ein vorzeitg abgereister Alexander Gauland, ein sich von Rede zu Rede weiter vertiefender Riss quer durch die Partei. Kalkar war der Anfang vom Ende Meuthen. Hatte zu Beginn des Parteitages niemand mit gerechnet. Und Meuthen hätte diese Rede nie gehalten, hätte er sich dort zur Wiederwahl stellen müssen. Kalkar war aber kein Wahlparteitag.

Auch besonders auf Parteitagen: die Infrastruktur. Im Sender haben wir feste Schnittplätze, kennen die Cutterinnen und Cutter, mit denen wir täglich zusammenarbeiten. Die Abläufe sind eingespielt und komfortabel. Komme ich mit einer Chipkarte voller Drehmaterial in den Sender zurück, übergebe ich es an die Produktion. Dort wird das Material eingelesen auf einen zentralen Sever. Von jedem Rechner aus und von jedem Schnittplatz hat man Zugriff darauf.

Auf Parteitagen schneiden wir auf so genannten SNGs, also Ü-Wagen. Das Einlesen von Material geschieht auf Zuruf. Was da ist oder was nicht, muss man erfragen. Niemand hat den Gesamtüberblick. Das macht das Produzieren von tagesktuellen Beiträgen anspruchsvoll. Zudem schneiden wir unter hohem Zeitdruck mit Leuten, die wir vorher nicht kennen. Etwas beengt, etwas provisorisch. All das mag ich auch sehr. Man muss einander vertrauen. Es ist unmittelbarer und in seiner komprimierten und trotzdem so wahnsinnig gut funtkionierenden Technik für mich immer noch enorm beeindruckend.

Die Hölle auf Parteitagen ist das Essen. Man ist ständig auf der Suche nach einem guten Bild, macht gerade einen O-Ton, die Zentrale ruft an, oder es ist irgendwas anderes. Dynamik zum Beispiel. Da hat man keinen Nerv fürs in Ruhe hinsetzen und Essen. Und das, was es gibt, entspricht diesem Spirit exakt. Ergo isst man irgendwann zwischendurch irgendwas, wenn es sich gerade ergibt oder was rumsteht, zum Beispiel auf dem Schreibtisch oder am Schnittplatz. Ich nehme auf Parteitagen traditionell pro Tag zirka 10.000 Kalorien zu mir. Parteitage sind meine Tour de France. Nur ohne Sport. Und komplett ohne Vitamine.

Irgendwann ist dann auch mal Feierabend. Für manche von uns lange nach Ende des Parteitags, wenn die Stühle alle leer sind, das Licht wieder an oder schon komplett aus, durchgefegt, die Türen der Halle abgeschlossen, alle Delegierten noch auf ein Bier aus oder schon im Hotel, den nächsten Tag vorbereiten. Denn manche Sendungen laufen ja spät am Abend, und man ist eigentlich immer erst sehr knapp erst vor Sendungsbeginn fertig. Egal, ob im Studio oder „draußen“. Wenn dann aber Feierabend ist, dann gehts ins Hotel. Findet der Parteitag in einer größeren Stadt statt, gibts auch noch ein Bier. Vielleicht sogar was Warmes zu Essen. Und am nächsten Morgen gehts dann weiter.

Jeder Parteitag ist anders. Das mag ich daran vielleicht am allermeisten.

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Borgen, Staffel 4

Diese Woche gab es in der Süddeutschen eine Seite 3 über Robert Habeck. Dort war unter anderem die These zu lesen, dass der nah an der Grenze zu Dänemark lebende Habeck, dessen vier Söhne in DK zur Schule gegangen sein sollen, seinen Politikstil vom Nachbarland übernommen habe: superpragmatisch, superuneitel. Wobei jemand im Artikel Habeck schon auch große Eitelkeit attestiert.

Da musste ich an „Borgen“ denken, dessen 4. Staffel ich vor zwei Wochen frisch erschienen quasi inhaliert habe. Zwei Nächte waren sehr kurz, dann war ich durch. Ich hatte aber auch, wie so viele andere, sehnsüchtig drauf gewartet.

„Borgen“ dreht sich um die dänische, wer hätte es gedacht, Politikerin Birgitte Nyborg. Ihren Aufstieg bis hin zur Regierungschefin, was sie dann irgendwann auch nicht mehr ist. Ihre Familie, das Scheitern ihrer Ehe. Ihr Frausein. Ränkespiele in der Politik, aber auch einfach um: politische Prozesse.

Die vierte Staffel hat Grönland im Vordergrund, das auf eine riesige Menge Öl stößt. Das löst fast einen Dritten Weltkrieg aus. (Vor 4 Monaten hätte das geklungen wie die reinste Dystopie oder nach hysterisch überzeichnetem Drehbuch. Schade, dass es das nicht mehr tut.)

Das ist der Plot im Vordergrund. Nyborg wird gezeigt, wie sie als nunmehr Außenministerin verhandelt. Mit Grönland, mit den USA, China. Mit ihrer eigenen Partei. Und mit ihren eigenen Werten. Sie wird unfreundlich, ungeduldig, unnachsichtig. Hart.

Sie wird aber auch gezeigt als zwar mächtige, jedoch oft auch einsame Frau in dem, was wir so gerne als beste Jahre euphemisieren. Die beiden Kinder sind aus dem Haus, der Ex-Mann wird noch einmal Vater. Birgitte Nyborg hingegen steckt mitten in den Wechseljahren. In einer Szene weint Nyborg, als sie gegenüber ihrem Sohn ziemlich offen zugibt, allein zu sein. Die beiden sitzen dabei in einem Café.

Es gibt keine Szene, keine Heulkrämpfe, keinen Wendepunkt. Nix da Tabula rasa, kein „Eat Pray Love“. Das ist Kopenhaben, nicht Hollywood. Nyborg steigt nicht aus, schmeißt alles hin und wird jetzt Yogalehrerin. Sie macht weiter, und sie tut einem Leid in diesem realistischen Umgang mit dem Angekotztsein von manchen Seiten ihres Lebens. Man kann halt nicht alles haben.

Ähnliches erlebt ihre ehemalige Sprecherin, Katrine Fønsmark. Sie kehrt zurück zu ihrem Fernsehsender, wo sie nun aber nicht mehr als Moderatorin und Redakteurin arbeitet, sondern als Nachrichtenchefin. Also auch über Macht verfügt. Auch sie verändert sich, und das nicht zum Guten. Sie gerät an eine streitbare Mitarbeiterin und merkt: Oben ist es einsam. Der Stress setzt ihr zu, die ihr abverlangten Kompromisse durch die Gratwanderung zwischen Journalismus und den Ansprüchen der Politik an den öffentlich-rechtlichen TV-Sender ebenso. Sie schreit ihre Kinder an, am Ende findet sie sich mit zusammengebrochenen Nerven wieder. Auf einer Toilette beim außerordentlichen Parteitag von Birgitte Nyborgs Partei.

Die Nyborg nicht mehr vertraut, weswegen man sich außerplanmäßig trifft. Nyborg schmeißt hin. Beide Frauen erkennen am selben Ort, dass sie nicht mehr können und/oder nicht mehr wollen. Und geben auf.

Ich liebe es, mir fremde Themen zu erarbeiten. Mit Genuss habe ich zum Beispiel Anfang des Jahres Khuê Phams Roman „Wo auch immer ihr seid“ gelesen. Ich hatte nämlich sehr wenig Ahnung von Vietnam. Und so ging es mir auch mit Grönland. Dafür war „Borgen“ super.

Was mir auch gut gefallen hat: die besonders dieser Staffel zugrunde liegende Annahme, dass in niemandes Leben alles tippitoppi ist. Auch finde ich es intellektuell sehr entgegenkommend, wenn nicht so getan wird, als ließe sich das ändern. Dass aber gleich beide Frauen am Ende aufgeben, ist doch bescheuert. Die Lehre kann ja nicht sein, dass gar nichts geht. Dass die große Karriere das Erste ist, was man hinschmeißt, ohne vorher wenigstens mal an anderen Stellschrauben gedreht zu haben. Am eigenen Perfektionismus zum Beispiel. Da hätte ich mir Varianz gewünscht.

Trotzdem: dicke Empfehlung. Schön erzählt. Sympathische Menschen. Nahbare Politiker. Tolle Bilder vom geliebten Kopenhagen und dem faszinierenden Grönland. Schlaue Gedanken. Fast so grandios wie „The West Wing“. Aber das erzähle ich ein andermal.

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9. Juni 2022

„Sach ma, kennst du das, wenn du tagelang so nen komischen Geruch in der Nase hast und so nen komischen Geschmack im Mund?“, frage ich letzten Samstag meinen Vater, beid em ich über Pfingsten zu Besuch bin. „Jau“, sacht er, „du bist krank.“

Er hatte Recht, ich hatte ein paar Indizien übersehen. War ich wohl krank, ohne mich wirklich krank zu fühlen. Dafür aber abends ab acht müde wie nix. Muste immer früh ins Bett. Jetzt aber nicht mehr. Bin ich wohl nicht mehr krank. Kann ich wohl wieder bloggen. Und das Ostwestfälische ist in ein, zwei Tagen wohl auch wieder weitestgehend raus ausser Sprache.

Heute Morgen fuhr ich auf dem Rad zur re:publica. Ich freute mich wie verrückt. Vor allem natürlich auf die re:publica. (Gut, ich konnte von da aus nicht twittern, WEIL TWITTER MICH GESPERRT HATTE, ABER DAS LESEN SIE GERNE MORGEN IN MEINER KOLUMNE; ICH REG MICH NUR EINMAL AUF.) Ich freute mich aber auch, weil ich zeitlich super im Plan war trotz mir bis dato unbekannter Radstrecke.

Noch immer nämlich unterschätze ich die Wege in Berlin. Zudem kann ich keine Karten lesen und verfüge obendrein über nicht mal einen Hauch von Orientierungssinn. Die Gene. Ich möchte die dafür verantwortliche Person hier nicht explizit nennen. Kleiner Hinweis: Sie wurde eingangs zitiert.

Ich fasse zusammen: Pünktlich würde ich sein. Das Rad schnurrte wie eine Katze. Meine Kleidung war optimal ans Wetter angepasst. Ich fror nicht, ich schwitzte nicht. Ich war ausgeschlafen, auskuriert. Alles war perfekt.

Nun hätte ich mit zufriedenem Lächeln einfach so weiterfahren und diesen seltenen Zustand genießen können. Aber nein, ich machte es anders: Ich überlegte, was ich noch perfekt im Leben haben könnte. Mehr Struktur im Alltag, fiel mir als Erstes ein. Nicht meine Stärke.

Regelmäßige Mahlzeiten, klare Pläne für die Wochenenden, festgelegte Tage etwa für Wäsche, rechtzeitige Einkäufe, Zeitfenster für Sport – ich begann im Kopf schon, zu basteln: samstags waschen, währenddessen auf den Markt, aus den Einkäufen oder zumindest Teilen davon Mittagessen kochen. Dieses Mittagessen hatte ich bereits zu Beginn der vergangenen Woche in einem ausgeklügelten Mahlzeitenplan festgehalten, in dem sich Genuss und Vernunft die Waage (ha ha) halten, alles dafür Notwendige bestellt oder eben samstags erstanden. Nach dem Mittagessen dann Freizeitvergnügen, das ich im Laufe der Woche bereits organisiert hatte. Abends wieser essen, danach irgendwas außer Tatort, noch ein Blick in den Kalender für die Woche, und dann ins Bett.

Es klingt vielleicht spießig, das finde ich aber nicht schlimm. Ich hab nie zu den Coolen gehört, warum sollte es mir jetzt noch gelingen? Ich versuche das gar nicht mehr erst. Und trotzdem hab ich mein Vorhaben heute auf dem Fahrrad in meinem schönen roten Kleid, das ich noch schnell vorher gebügelt hatte (nachdem ich es zufällig im Schrank wiedergefunden hatte, wo es letztes Jahr wohl vom Bügel gerutscht war), und mit meiner schönen guten Laune gekippt. Denn: Ich machte erst mal Bestandsaufnahme. Und wissen Se was? Wissen Se, wie das Ergebnis lautete?

Alle hier sind sehr zufrieden.

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2. Juni 2022

Sheryl Sandberg verlässt Facebook bzw. Meta. Das geht hierzulande medial unter, neben Haushaltsdebatten, erstem Merkel-Auftritt nach Ende ihrer Kanzlerinnenschaft, Einigung übers Sondervermögen und Johnny Depp vs. Amber Heard.

Das ist ungut, weil Meta ja wichtig ist. Größer als jeder Staat. Also hier ein paar Gedanken zum Thema Sandberg.

Sandberg war und ist für viele Frauen ein Vorbild. Nicht nur qua Amt, sondern auch, weil sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes öffentlich trauerte. Trauern, also Schwäche zeigen, ist ja schon dann nicht so gern gesehen, wenn jemand über einen normaldurchschnittlichen Job und ein normaldurchschnittliches Maß an Macht verfügt.

Ob Sandberg ihre Macht im Konzern dafür genutzt hat, andere Frauen zu fördern? Die beiden Autorinnen von „Inside Facebook“ haben für ihr Buch mit sehr vielen Leuten im Unternehmen gesprochen. Und die Antwort lautet „Nein“.

Was Sandberg aber getan hat, als sie 2008 von Mark Zuckerberg geholt wurde: Sie wirkte maßgeblich an der Entwicklung des Targeting mit, der nahezu maßgeschneiderten Werbung, die Unternehmen auf Facebook schalten können. Um Maß nehmen zu können, misst die Seite ihre User aus. Die müssen dafür ihre Daten hinterlassen. Mithilfe des „Data Minings“, das Sandberg als Idee mitbrachte, wird dies einfacher. Um dies wiederum zu ermöglichen, müssen wir User möglichst lange auf der Seite verbleiben. Das tun wir vor allem, wenn wir negativ emotionalisierende Beiträge sehen. Und dafür sorgen Algorithmen. Unsere Daten sind das Gold, das Meta an Werbetreibende verkauft.

Zusammengefasst: Hass ist Metas Goldgrube.

Sandberg hatte ebenso wie Zuckerberg, schreiben die New York Times-Journalistinnen Sheera Frenkel und Cecilia King, vor allem an einem Interesse: Geldverdienen. „Über Jahre hinweg war das Sicherheitsteam von der Doppelspitze des Unternehmens, die kein aktives Interesse an seiner Arbeit hegte und auch seine Berichte nicht anforderte, größtenteils vernachlässigt worden.“

Dass Donald Trump davon profitierte, dass im Zuge des Cambridge Analytica-Skandals die Daten von zig Millionen Nutzern missbraucht wurden, dass Desinformation bis heute blüht, in der Pandemie zum Beispiel sehr riskant, dass Massenmörder ihre Taten auf der Plattform streamen – auch daran hat Sandberg Anteil. Und zwar einen gewaltigen.

Sandberg hat auch versucht, einzugreifen. In einzelnen Punkten setzte sie sich durch. So gehörte sie zu denjenigen, die Zuckerberg davon überzeugten, Holocaustleugnung nicht mehr auf seiner Plattform zu erlauben. In anderen Belangen kam sie aber am allmächtigen „Zuck“ nicht vorbei.

Wenn sie jetzt geht, dürfte das deshalb wenig ändern. Interessant wird sein, ob sie irgendwann Interna aus dem Maschinenraum berichtet. Wahrscheinlich ist das allerdings nicht. Sie hängt ja mit drin. Vielleicht aber setzt sie ihr Wissen und ihre Erfahrung ja anderswo ein. Und baut etwas auf, das die gefährlichen Fehler von vornherein vermeidet, die Facebook gemacht hat. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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31. Mai 2022

Wer schreibt, bleibt. Die AfD weiß das nur zu gut. Die inzwischen vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtete Partei war sehr viel früher als die anderen Bundestagsparteien in der Lage, die Algorithmen und die durch sie ausgelösten Mechanismen in den sozialen Netzwerken für sich zu nutzen. Rechte Parteien und Social Media harmonieren in der Regel recht gut miteinander.

Zitatkacheln sind in diesem Verhältnis ein beliebtes Mittel der Wahl. Kein Wunder: Sie sind prägnant, schnell erstellt, bleiben bei den Nutzern hängen und verschaffen Profil. Kay Gottschalk zum Beispiel wirkt ja nun, nehmen wir nur mal das oben verwendete Motiv, wie jemand, der so fest auf dem Boden der Tatsachen steht und so weit entfernt von rassistischem Gedankengut, dass es ihn lediglich zwei Sätze kostet, um sich zu distanzieren. Glasklar, knallhart, keine Umschweife, da gibt es nichts zu deuteln. Von Christian Lüth distanziert sich Gottschalk da oben. Den die AfD 2020 als Sprecher ihrer Bundestagsfraktion rausgeschmissen hat. Auf Lüth nämlich gehen Zitate zurück wie das, er sei „arischer Abstammung“ und für die Vergasung von Migranten.

Auf Kacheln war das nicht nachzulesen, außerdem will Kay Gottschalk in drei Wochen auf dem Parteitag in Riesa in den Bundesvorstand seiner AfD gewählt werden, Lüth hatte ihm wohl versprochen, ihm eine Mehrheit dafür zu organisieren – also dachte sich Gottschalk: „Was kümmert mich mein Zitat von neulich, ich stelle den Lüth ein.“ Distanz völlig neu definiert.

Da stellten sich aber einige in der Fraktion quer, nun wird Lüth wieder rausgeschmissen (noch bevor er angefangen hat). Der bleibt also schon mal nicht, zumindest fürs Erste. Könnte gut sein, dass Gottschalk auch bleibt – Nicht-Mitglied des Bundesvorstands. Was aber bleibt: die Zitatkachel. Inklusive Kommafehler.

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30. Mai 2022

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Ich kann erst heute etwas zu diesem leidigen Thema schreiben, weil ich gestern sehr lange Autobahn gefahren bin und vorher sehr schön geurlaubt habe. Urlaub und Bloggen, habe ich festgestellt, schließen einander bei mir anscheinend aus.

Nun aber bin ich bereit, und ich bin einigermaßen aufgebracht. Keine Ahnung, wie schön ein Urlaub sein soll, damit ich mich nicht aufrege über diesen Stuss, den Sie da oben lesen, hören und sehen. (Es handelt sich um eine indirekte rhetorische Frage. Ich hatte großartige Tage und bin trotzdem auf 180. Mein Puls sagt also nichts über meinen Urlaub aus, sondern über das einmal mehr unfassbar plakativ ausgestellte Versagen unserer Politik.)

Das ZDF Magazin Royale hat mal wieder einen super Job gemacht. Und dieses Mal belegt, wie überfordert und auch unwillig man teilweise bei der Polizei ist, wenn es um die Ahndung von Hassverbrechen im Netz geht. 16 “Korrespondent*innen“ der Sendung haben am selben Tag in allen 16 Bundesländern je sieben identische Hassverbrechen auf einer Polizeiwache vorgelegt. Die Ergebnisse der anschließenden Polizeiarbeit fielen höchst unterschiedlich aus und zeigten, wie dringend notwendig eine fundierte Schulung ist. Aber eben auch die Motivation der Beamten.

So weit, so bekannt. Deswegen schreibe ich „belegt“ und nicht „herausgefunden“. Wer hat sie noch nicht gehört, die Geschichten von genervten Polizisten, die Screenshots verlangen. Die sagen: „Dann gehen Sie halt nicht ins Internet.“ Und das ist keine Anekdote von 1988. Die nicht wissen, wie man Links zu Tweets kopiert. Die überfordert sind von Meldewegen. Welche wiederum von den Plattformen allerdings auch absichtlich kompliziert gestaltet sind, damit die halbjährlich ans Bundesamt für Justiz zu meldenden Zahlen möglichst niedrig bleiben. Sonst wird noch das volle Ausmaß des Problems bewusst. Und das Versagen der Tech-Riesen. Und sonst muss man womöglich mehr Leute einstellen, die moderieren, monitoren, melden. Und verdient hinterher weniger Geld. Nicht auszudenken! Facebook heißt schließlich Facebook und nicht Caritas. Dermaßen kompliziert waren zwischenzeitlich die Meldewege, dass – Achtung, jetzt gut auf Subjekt und Objekt achten – Staatsanwälte und Polizeibeamte geschult wurden durch Mitarbeiter von Twitter. Genau. Nicht die Firmen richten sich nach den Anforderungen von Staaten, nein, die Staatsbediensteten lassen sich wie treudoofe Dummies erklären, wie es geht. Oder eben nicht.

Das ist aber nur ein Aspekt, und da richtet sich meine Wut nicht gegen Nancy Faeser. Auch nicht, weil die so tut, als gäbe es keinen Föderalismus, der die Strafverfolgung zur Ländersache macht. (Danke, Nationalsozialismus.) Nein, ich werde in dem Moment sauer auf Nancy Faeser, in dem sie quasi implizit behauptet, Polizisten wären die Einzigen, die keine Ahnung und/oder keinen Bock haben. Denn das ist ja blanker Unsinn.

So lange auch diese Bundesregierung in punkto AllesWasMitDigitalemZuTunHat im Schneckentempo unterwegs ist und auf Sicht kriecht („Datenhighway“ ist ein schlimmes Wort, das irgendwie auch schon so viel sagt, oder?), muss man sich auch nicht wundern, wenn Polizisten morgens nicht mit gezückter Tastatur und entschlossenem Blick die Wache betreten mit dem festen Vorhaben, das Social Web heute ein Stückchen besser zu machen. Wenn immer erst dann was gesagt wird zum Thema, wenn gerade wieder was Schlimmes passiert ist wie etwa ein via Telegram-Gruppe organisierter Fackelmarsch (zweite Nazi-Parallele, kein Wunder, der Hass im Netz kommt ja vor allem aus dieser Ecke) – warum zur Hölle sollen dann Polizeibeamte sich berufen fühlen, dieses Problemfeld jetzt zu priorisieren?

Der Fisch stinkt vom Kopf. Politik und beherztes Handeln in Sachen Interweb schließen einander wohl aus. Schade. Vor allem für alle Opfer des Hasses.

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25. Mai 2022

Das ist kein Zahn, sondern ein Steinchen. Es wurde mir vorhin überreicht von der 4-Jährigen, die nebenan wohnt und hier ein- und ausgeht. (In diesem Haushalt existiert eine quasi ebenerdige Süßigkeitenschublade, die maßgeblich dazu beitragen dürfte, ich mache mir da nichts vor.)

„Das sollst du immer mitnehmen. Dann passt das auf dich auf“, sagte die kleine M., als sie es mir in die Hand drückte.

Morgen fahre ich ja in den Urlaub, also nehme ich den mit, Schoß es mir sofort durch den Kopf, den früher gab es in meiner Familie ein Ritual: Verreisten wir, fuhren wir am Vorabend immer zu Omma (in Westfalen immer mit mindestens doppeltem M gesprochen, sonst wirkt man arrogant) Therese, der Mutter meiner Mutter. Dort holten wir uns erstens regelmäßig einen verständnislosen und mit viel Engagement vorgetragenen Monolog des Inhalts „Fernreisen sind doch Unsinn und Flugzeuge Todesmaschinen auf Kerosin“ ab, zweitens Urlaubsgeld und drittens eine kleine Plakette. Den Heiligen Christophorus, den Schutzpatron der Reisenden. Meine Mutter steckte ihn in ihre Handtasche, und er begleitete uns auf unserem Trip des Wahnsinns. Kehrten wir entgegen allen Prophezeiungen doch außerhalb eines Sarges zurück, tat er dasselbe in den Besitz meiner Omma. Bis zur nächsten hirnrissigen Unternehmung.

Meine Oma, meine Mutter und auch ich fingen jeden Sonntag in die Kirche. Erst zusammen, dann irgendwann entkoppelt, weil ich als Messdienerin auch mal morgens um 8 an der Messe teilnehmen musste. Da sahen sich die beiden uhrzeittechnisch nicht. Ob ich glaube, stand für mich eigentlich nie zur Debatte, das war immer klar. Auch, als ich vor 15 Jahren oder so aus der Kirche austrat. Der Grund waren die Missbrauchsfälle und der Umgang damit. Ich glaubte weiter, aber ich ging nicht mehr in die Kirche. Nur an Weihnachten. Von „U-Booten“ spricht man dann ja. Hin und wieder tauchen Leute wie ich auf.

Vor sechs Jahren dann war mein Leben einige Monate lang schwer. Es gab große Ungewissheit und große Sorgen. Und plötzlich fand ich mich sonntagmorgens in der Kirche wieder, jede Woche. Und gefiel mir dabei nicht, das war mir zu einseitig. Ich beschloss, wieder einzutreten.

Und was glauben Sie, was da los war? Die Hölle war los! Totale Überforderung in der hier in meinem Kiez für mich zuständigen Gemeinde! Austritte, Ja, damit hat die katholische Kirche Erfahrung. Aber Eintritte? Das war neu. Es dauerte Wochen, bis das Prozedere recherchiert worden war. Monate, in denen sich hier zu Hause die Ereignisse überschlugen. Das Projekt „Zurück in die Kirche“ hat dann doch nicht stattgefunden, weil anderes wichtiger wurde und dringlicher war.

Ich glaube, aber ich geh nicht in die Kirche. Ich reise, und habe dafür jetzt einen Stein. Und ich finde, das passt alles gut zusammen. So wie Urlaub und ich. Passen Sie gut auf sich auf!