Im Freibad – eine Menschenbetrachtung

Im Freibad – eine Menschenbetrachtung

Sonntag war ich im Freibad. Zum zweiten Mal überhaupt in meiner 17-jährigen Berlin-Zeit. Freibad – das ist hier nicht nur eine aktive Entscheidung für Massengedränge, sondern im ungünstigsten Fall auch für Massenschlägerei. Wenn man Glück hat, lediglich als Zuschauer. Ich wiederhole: Wenn man Glück hat.

Eigentlich sollte es Sonntag zum See gehen, das ist ja die Alternative für uns in der Hauptstadt. Da ich aber Samstag komplett flach lag, hatten die Freunde sich in Erwartung meiner Abwesenheit und mit Blick auf ihre Ablehnung von JWD-Aufenthalten statt für den See lieber fürs Freibad entschieden. Als ich nun am Sonntag überraschenderweise wie ein junges Reh aus dem Bett sprang (oder wie ein Kleinkind, die regenerieren ja auch gerne im Speedy Gonzales-Tempo), war der Freibad-Entschluss schon gefasst. Ich schloss mich an.

Weite Teile meiner Jugend habe ich im Freibad verbracht, genauer: im Gütersloher Nordbad. Mit dem Rad brauchte ich von meinem Elternhaus dorthin 5 Minuten, die Jahreskarte kostete 80 Mark, und das war gut investiertes Geld in meine Glückseligkeit.

In disziplinierten Zeiten ging ich morgens um 6 vor der Schule mit meiner Freundin Christina schwimmen. Die Sonne stand noch tief, wir schwammen zwischen älteren Leuten (vermutlich das Alter, das wir inzwischen erreicht haben, aber lassen wir das), und brachten unseren Familien auf dem Rückweg Brötchen mit.

Nachmittags nach den Hausaufgaben fuhr ich wieder hin, klingelte bei meiner direkt gegenüber wohnenden Freundin Eva (beste Lage, damals meine Meinung), und wir gingen rüber. Und legten uns zu irgendwem dazu. Im Laufe eines solchen Nachmittags wuchs die Gruppe auf im Schnitt 20 Leute. Mit vielen hatte ich außerhalb des Nordbad nichts zu tun. Das hier war unsere gemeinsame Welt.

Wir waren Teenies in einer mittelgroßen Stadt mit exakt einem Freibad. Das heißt wir kannten quasi alle, und alle kannten uns. Niemand musste sich verabreden, das Bad war offen, wir waren dort, in den Ferien schon am Vormittag. Leute fuhren mit ihren Eltern oder Freizeiten in den Urlaub, kamen zurück, erzählten Neuigkeiten, erfuhren Neuigkeiten.

Wir ernährten uns von Pommes, Ketchup-Brötchen, gemischten Tüten für eine Mark 50 und von Cola-Eis. Irgendeiner hatte immer einen Ghetto-Bluster dabei, und wenn der nicht lief, raschelten die großen, alten Bäume im Wind oder schepperte die Lautsprecheranlage, weil Bademeister „Hölzchen“ (weil er so trockene, braune Haut hatte) jemanden zusammenstauchte. Diese Ermahnungen drangen bei entsprechenden Windverhältnissen bis auf den Balkon meiner Eltern. Hörte ich sie dort, erfasste mich augenblicklich Fomo (fear of missing out).

Selten war ich so folgsam wie während der Sommermonate: Im Hausarrest alleine vor mich hinzubrüten, während die „Clique“ zusammen im Bad lag, der große, schwere Junge namens Hippo (Jugendliche können grausam sein) zu aller Vergnügen einen Labello verspeiste oder der Riesenkrach zwischen dem schönen Sven und seiner Monika öffentlich ausgetragen wurde – blanke Horrorvorstellung.

Alles popkulturell Relevante lernte ich im Nordbad: dass REM gute Musik machten. Blue System nicht, aber dass die gleichnamige Klamottenmarke wichtig war. Dass man Stephen King lesen musste und Italo Pop maximal während des Urlaubs oder anschließend heimlich zu Hause ok war. Wer Nick Cave war, lernte ich, und wie man 501er richtig eintrug und möglichst lässig vom 10er sprang (nicht die Nase zuhalten). Ich erlebte das Leben in einer Familie mit einer alleinerziehenden Mutter zweier Kinder (meine Freundin Eva und ihr Bruder Philipp) mit. Ohne feste Essenszeiten, ohne sonntägliche Kirchgänge, ohne viel Geld. Ohne perfekte Sauberkeit und tolle Möbel, dafür aber mit viel Gelassenheit. Und ich lernte die unterschiedlichen Kategorien von Freibadtypen kennen.

1. Die Bahnenschwimmer: Bahnenschwimmer haben ein festes Ziel vor Augen. Sie sind geradeaus unterwegs, schwimmen Hindernissen im Zweifel ohne großes Aufhebens aus dem Wege, bevorzugen aber die ungestörte Routine, in der sie wiederum andere nicht stören. Sie ziehen tiefe Befriedigung aus gleichbleibendem Tempo und moderater, regelmäßiger Anstrengung. Bahnenschwimmer sind klug. Nach 10 Uhr morgens oder vor 18:30 Uhr unter der Woche meiden sie das Freibad. Man ist ja nicht bescheuert, sondern fokussiert und unaufgeregt.

2. Anders die Wochenendbesucher: Wochenendbesucher wollen vor allem eines: Entschädigung für die Arbeitswoche. Sie suchen nach der größtmöglichen Schnittmenge aus Entspannung, Vergnügen, körperlicher Ertüchtigung und kulinarischer Sünde in Form von Pommes Schranke. Sie kollidieren mit Typ 3, Familien, und Typ 4, den Arschbombern, was zu Lasten der körperlichen Ertüchtigung und Entspannung geht, geben die Hoffnung aber nicht auf und integrieren deshalb ihre teilweise Enttäuschung ins Freibaderlebnis, die im Laufe einer Woche ohnehin verblasst.

3. Familien: Familienväter und -mütter haben in der Regel ein gutes Gedächtnis, aber keine guten Argumente gegen die Sehnsüchte ihrer Kinder sowie die eigene Nostalgie – oder aber gegen das große Fragezeichen, wie man am besten Zeit mit Kindern verbringt und diese am Abend möglichst müdegespielt hat. Die Folge sind entweder Erwachsene, die in vollgepinkelten Plantschbecken sitzen und dem Nachwuchs entzückt bei den ersten Wasserspielchen zuschauen, oder aber frierend im Nichtschwimmerbecken stehen, wo sie versuchen, möglichst wenig getreten oder angesprungen zu werden. In der Regel heult auch immer jemand und muss in seiner Empörung heruntergeschraubt werden. Entweder hat das Geschwister mehr Pommes, Mama die Frisbee zu Hause vergessen oder das Wasser unerwartete Auswirkungen.

4. Die Arschbomber: Von Hormonen durchtoste Jungs, die Mädchen und andere Jungs beeindrucken wollen. Wahlweise werden dafür Bademeister provoziert oder aber Frauen, deren Haare nicht nass werden dürfen, oder vulgäre Parolen mitten im Sprung gebrüllt. Manche lassen diese Phase nie hinter sich.

5. Teenie-Mädchen: Entweder auch Arschbomber oder junge Damen, die am Beckenrand sitzen und nicht nass werden wollen. Mit ersteren geht man ein paar Jahre später Bier trinken, mit zweiteren shoppen. Mit den Tollen geht beides.

6. Pärchen: Liegen eng zusammen, spüren ob knapper Begkleidung ihre Gefühle, vergessen mitunter, dass sie nicht zu Hause sind. Wenn ihnen stilistisch wirklich alles egal ist, spielen sie die Wasserszene aus „Dirty Dancing“ nach.

Welche Typen ich am Sonntag gesehen habe? Zuallererst Security. Berlin halt. Und ab da weiß ich nicht mehr. Es war sehr, sehr voll. Und es gab keine Massenschlägerei. Alles andere war mir egal. Und, ganz ehrlich: All diese Kategorie Menschen treffe ich doch auch außerhalb des Freibads.