Mein Tag begann heute früh, er begann mit dem Thema Energie. Mein morgiger Tag wird noch früher beginnen, ich müsste eigentlich ins Bett. Aber ich werde morgen nicht müde sein, denn ich hab was für mich entdeckt: Energie ist nicht gleich Energie. Ich (er)spare mir seit Monaten konsequent die schlechte und kann dadurch mehr leisten. Und damit meine ich weiß Gott nicht nur bei der Arbeit. Wo leben wir denn? Im Calvinismus?
Ich komme gerade von einer Lesung, Britta Buchholz’ „Mutterseelenallein“. Ich erwähnte und empfahl es bereits, was ich hiermit ausdrücklich erneut tue. Britta hat den Tod ihrer Mutter zum Anlass genommen, ein Buch übers Trauen, übers Wertschätzen, übers Loslassen, über Liebe zu schreiben. Heute Abend lautete eine Frage an sie, ob sie sich an einen ganz konkreten Moment des Loslassens erinnern kann, und sie erzählte, wie sie die Trauerkarten ihrer Freunde ins Feuer geworfen habe. Nachdem sie sie eineinhalb Jahre lang mit sich herumgetragen hatte. Auf die Nachfrage, ob sie gezögert habe aus Angst, es einst zu bereuen, sagte sie: „Natürlich.“ Sie habe es aber nie bereut. Ihr sei klar, dass das Gefühl beim Lesen der Karten ja immer noch da sei. Und Loslassen wichtig.
Ich habe dieses Jahr zwei relativ radikale Entscheidungen getroffen. Eine Freundschaft beendet und einen Plan gecancelt. Ich bin meinem Gefühl gefolgt, und bisher gab es im ersten Fall wenige, im zweiten Fall gar keine Momente, in denen ich dachte: ‚Könnte man noch mal drüber nachdenken.‘
Natürlich hinterlässt so etwas eine Lücke. Aber: Es schenkt auch viel Energie. Man entscheidet das ja nicht, weil die beteiligten Leute so super ins eigene Leben passen.
Ich habe diese Woche ein sehr unangenehmes Gespräch geführt, das ich seit Monaten vermieden habe. Ich musste deutlich werden und Entscheidungen mitteilen. Das war nicht schön und wird das Verhältnis zu einem Menschen höchstwahrscheinlich nicht unbedingt zum Besten verändern, der mir sehr wichtig ist. Aber: Es ist endlich ausgesprochen und arbeitet und nicht mehr in mir.
Und gleichzeitig habe ich ein unangenehmes Gespräch abgewendet, weil ich sehr klar und ohne Unterton gesagt habe, was mir nicht gefällt. Man war sich sehr schnell einig, und nun bin ich in dieser Konstellation zufriedener denn je. Ich habe nicht erst Dampf an anderer Stelle abgeladen, wie ich es sonst getan hätte (die Anlaufstelle ist nämlich derzeit nicht verfügbar, weil sie, oh the Irony, gerade raus ist, Energie tankt, und ich sie mit derlei Anliegen nicht behelligen will) und dabei eigentlich nur noch mehr Dampf produziert.
Ich gehe wieder mehr unter Menschen, mein soziales Leben explodiert gerade quasi nach mehreren Trauerjahren, Corona und Buchschreiben. Dadurch schlafe ich weniger. Trotzdem bin ich fröhlicher, ausgeglichener – und anstrengender, „weil du jetzt wieder so präsent bist“, sagt Freundin J., tut genervt, lacht und drückt mich. Tja. Wo Licht, da Schatten 😉
Die Kritik an Christine Lambrecht reißt nicht ab – und nun ist er wieder da: der Spin, es handle sich um Frauenfeindlichkeit. Den gab es ja auch schon bei Anne Spiegel. Da sei es um Vereinbarkeit gegangen, darüber sei die inzwischen ehemalige Familienministerin gestolpert, hieß es. An der ja unzweifelhaft unfairen Verteilung von mental load und care Arbeit unter Männern und Frauen.
Dass Anne Spiegel behauptet hatte, an Kabinettssitzungen teilgenommen zu haben – das fiel in der Argumentation unter den Tisch und wird dann wohl bestenfalls als Beleg für die steile Misogynie-These bemüht: Weil Vereinbarkeit nicht möglich sei, habe Spiegel ja lügen müssen. Das ist auch deshalb eine würdelose Verteidigungslinie, weil sie Frauen klein macht. Als wären Frauen nur dann durchsetzungsfähig, wenn sie zu einer List greifen. So wie die Mutter eines meiner ehemaligen Partner einmal voller Stolz erzählte, ihr Vater habe ihre Mutter von allen finanziellen Belangen ferngehalten – die sich aber regelmäßig selber einen Überblick verschafft. Heimlich, wenn ihr Mann nicht im Hause war. Entsetzlich.
Im Fall Anne Spiegel argumentierten einige ihrer Verteidiger, als würde man gewinnen, wenn man sich durchwurschtelt. Als würde es nicht gerade von Rückgrat zeugen, wenn man sagt: Diese Regeln kann ich nicht einhalten, will ich auch nicht, wir müssen das also offen verhandeln – auch auf die Gefahr hin, dass ich verliere.
Bei Christine Lambrecht scheint der Fall noch glasklarer: Es gibt unter anderem Kritik an ihrer Schuhwahl beim Truppenbesuch in Mali und Niger. Die Ministerin trug Pumps. Wirklich hohe Pumps. Pumps, die sie geschätzt zehn Zentimeter größer machen. In der Wüste. Vor Soldaten. „Frauenhass!“, schreit es da direkt auf, wird diese Schuhwahl in Frage gestellt. Frauen trügen nun mal Pumps!
Jo. Stimmt. Nur ist ja im Leben alles Kontext. Stellen wir uns mal vor, ein Verteidigungsminister hätte in Niger Bundeswehrsoldaten besucht. Und zwar in Lackschuhen. Obwohl die Vorgabe lautet: festes Schuhwerk. Man kann das anders machen, man kann sich schick machen, man kann ausstrahlen wollen, einen eigenen Kopf zu haben. Man kann das machen mit dem Vorsatz, sich am Echo nicht zu stören, sich nicht davon irritieren zu lassen. Nur kann doch niemand allen Ernstes die vorhersehbare Reaktion als frauenfeindliche Kampagne bezeichnen. Es sei denn, man setzt auf ein Ablenkungsmanöver. Als Frauenfeindlichkeit als Chance. Und lässt weg, dass Lambrecht auch neben Pumps und Helikopterflügen für anderes kritisiert wurde. Führungsstil, falsche Ankündigungen etc.
Es gibt eine interessante Parallele zwischen Lambrecht und Spiegel: Beide standen dem Bundesfamilienministerium vor. Lambrecht kommissarisch; sie war gleichzeitig Justiz- und dann auch Familienministerin, nachdem Franziska Giffey wegen ihrer Doktorarbeit zurückgetreten war, um ihre Bürgermeisterkandidatur für Berliner noch zu retten. Es gab damals Unmut ob der Personallösung: Das Familienministerium sei viel zu wichtig, um lediglich nebenbei geführt zu werden, sagten Einige. Unter denen, daran erinnerte nun die Tage eine kluge Freundin, seien erstaunlicherweise viele gewesen, die es nun gar nicht so undenkbar gefunden hätten, die sichtbar völlig überforderte Anne Spiegel im Amt zu belassen. Debatten als Bärinnendienst.
Stolperfalle Sohn, Stolperfalle Social Media, Stolperfalle: Medienkompetenz.
Alexander Lambrecht ist mit seiner Mutter, der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, gemeinsam im Hubschrauber geflogen. Geflogen, Gepflogenheiten – Stand jetzt ist die Ministerin rechtlich nicht zu belangen. Die ohnehin um sie tobende Debatte, um Stilfragen, um Führungsfragen, um Fingerspitzengefühl, wird durch das Foto oben befeuert. Eine Frage aber kommt zu kurz: Wieso sind unsere Regierenden nach wie vor zu dämlich für den Umgang mit Social Media?
Alexander Lambrecht ist 21 Jahre alt. Er ist mit Facebook aufgewachsen, mit Instagram, er wird Snapchat kennen und TikTok besser als diejenigen, die sich jetzt gerade in die Debatte um TikTok erst einschalten, weil alle anderen sich jetzt auch gerade einschalten, weil diese jungen Leute da ja so viel sind.
Alexander Lambrecht ist einer von diesen jungen Leuten. Und er ist der Sohn einer Frau, die vor gar nicht langer Zeit das Bundesjustizministerium geleitet hat. In die Zeit von Christine Lambrecht als Justizministerin fällt der Mord an Walter Lübcke. Lambrecht war maßgeblich beteiligt an einem direkt daraus folgenden Gesetzespaket, darunter Maßnahmen gegen Hass im Netz. Sie muss sich allerspätestens da eigentlich in die Materie eingearbeitet haben. In Fragen wie die Wucht von Bildern, Mechanismen, Stolperfallen.
Und Lambrechts Sohn verhält sich dermaßen töricht und postet ein solches Bild, das seine Mutter weiter in die Bredouille bringt? Gut für die Öffentlichkeit. Gut in doppeltem Sinne: Transparenz von Regierungshandeln ist immer begrüßenswert. Auch das Wissen darüber, dass Regierungsverantwortliche das so wichtige Thema „Medienkompetenz“ nicht mal zu Hause hoch (genug) hängen. Gut zu wissen, bestürzend in der Sache. Überraschend allerdings nicht. Leider.
Es gibt ja zwei Sorten Menschen. Die einen lassen eine solche im Schweiße meines Angesichts gefertigte Torte zurückgehen („zu mächtig“), die anderen freuen sich drüber und essen davon so viel, wie ihnen guttut.
Freundin L. gehört zu letzterer Kategorie. Mit ihr, ihrem Mann und ihren drei Söhnen habe ich das Wochenende verbracht. L. und ich kennen uns seit dem ersten Studientag. Gestern haben wir ausgerechnet: Das sind 25 Jahre. Sie und ihr Mann A. kennen sich seit 17 Jahren. In den letzten beiden Tagen sprachen wir darüber, wie viel wir Menschen schon bei unserer Geburt mit auf die Welt bringen. Stichwort: Zufriedenheit.
L. ist ein sehr glücklicher Mensch, weil sie von Anfang an sehr zufrieden war. Ich glaube, diese Reihenfolge und Kausalkette ist so korrekt wiedergegeben. L. hat das Glück, über lebenserleichternde Gaben zu verfügen: Sie kann sich gut in der Welt verorten und ihr Schicksal in Relation zu dem anderer Menschen setzen. Seit Beginn ihrer Ehe an ist L. mit den Kindern unter der Woche allein. A. arbeitet in einer anderen Stadt. Ihr erster gemeinsamer Sohn, inzwischen 13, gehörte zu den Babys, die 5 Uhr 30 für eine total angemessene Zeit zum Aufstehen halten. Und Schlaf für überschätzt. “Ich hab schon manchmal geweint, wenn ich ihn die achtzigste Runde um den Block geschoben habe“, erzählte L. am Wochenende – und grinste. Ich habe Fotos von ihr mit einem wuseligen Säugling auf dem Schoß, auf denen sie aussieht wie ein Zombie. Aber ein lächelnder. Nie habe ich sie sich beschweren hören.
Ihr zweiter Sohn bescherte ihr während seiner Zeit in ihrem Bauch einen veritablen Bandscheibenvorfall. Und auch da: keine Klagen. Eines Tages aber ein Anruf von ihr, als ich bei IKEA an der Kasse stand und mir selbst leid tat, weil es nicht voranging. Hörbar strahlend erzählte mir meine Freundin, dass sie nach der Geburt höchstwahrscheinlich wieder würde laufen können. “Wahrscheinlich muss ich nur hinken!“, jubelte sie. Sie hinkte nicht, bekam ein paar Jahre später sogar noch ein Kind, ist weiterhin unter der Woche allein mit inzwischen drei Jungs, voll berufstätig – und zufrieden. Sehr zufrieden. Wie immer. Gelassenheit und Ur-Vertrauen, daraus besteht das rote Band, das sie und A. zusammenhält.
Und dann ist da Freundin A. Zum zweiten Mal schwanger. Ein Wunschkind. Keine Komplikationen, keine auffällige Nackenfalte, keinerlei andere beunruhigenden Vorzeichen. A. ist beruflich erfolgreich, gerade hat sie ihren lang herbeigezitterten Traumjob ergattert. Ihre Ehe ist intakt, Schicksalsschläge kennt sie nicht. Ich frage: „Wie gehts dir?“ Und sie antwortet: “Joa. Irgendwie halt. Gibt nichts Neues.“ Und: Sie könne ja gerade keinen Alkohol trinken.
Ich habe einen Bekannten, J., der ist wie meine Freundin L., immer zufrieden. Sein Bruder T. ist anders veranlagt; er ist oft grummelig, sieht eher das Negative. Die Mutter der beiden erzählt gerne eine Geschichte aus der Kindheit ihrer Jungs: Die beiden spielten mit Bauklötzen. T., der ältere, baute einen Turm, einen hohen Turm. Als der zusammenbrach, tobte T., er schluchzte, er schrie, er kriegte sich gar nicht mehr ein. Der kleine J. griff sich zwei Klötze, legte den einen auf den anderen, fing breit an zu grinsen – und klatschte selig in die Hände. “So ist das bis heute bei denen“, sagt ihre Mutter.
Erst kommt die Zufriedenheit, dann das Leben. Vielleicht ist das so. Falls es so ist, ist das ganz schön unfair.
Den diesjährigen Muttertag begehe ich in Düsseldorf bei Freundin L. L. und ich kennen uns seit dem allerersten Tag unseres Studiums. Wir hatten dieselbe Fächerkombi, mussten wegen einer Vorlesung ein Proseminar früher verlassen. L. kündigte das an, ich lief hinterher, die kommenden Jahre liefen und tanzten wir viel und oft zusammen. Inzwischen ist L. Seit 15 Jahren verheiratet, so lange kenne ich auch ihren Mann, die beiden haben drei Kinder, und die fünf sind miteinander sehr zufriedene Leute. Hier gab‘s heute Morgen Blumen, einen Ballon und Streit darum, wer ihn kaputt machen darf. Alles normal, laut und schön mitanzusehen.
Meine Mutter lebt nicht mehr. Der Muttertag war ein großes Ding für sie. Erstens neigte sie ohnehin zu unglaublicher Korrektheit (nie werde ich vergessen, wie sie für einen Nachtisch 400 Gramm Amarettini brauchte. Zerbröselt. Als Topping. Und mich hektisch zum Einkaufen schickte: Sie hatte nur 380 Gramm), und zweitens war sie eine überaus große Freundin von Ritualen.
Nun ist sie also nicht mehr da. Gestern las ich den Satz: „Normalerweise rufen wir am Geburtstag der Mutter einmal an, und dann ist dieses Ereignis aus dem Kopf verschwunden. Nachdem die Mutter stirbt, denken wir nahezu den ganzen Tag an sie.“ Dasselbe gilt für den Muttertag.
Der Satz stammt aus „mutterseelenallein – Eine Tochter findet ihren Weg“. Meine Kollegin Britta Buchholz hat es geschrieben, es ist gerade erschienen, und ich habe es durch. Es ist ein kluges Buch. Sehr persönlich und gleichzeitig glaube ich, jede Tochter kann etwas daraus für sich ziehen. Auch wenn die Mutter noch lebt. Es ist ein Buch über das vielleicht krasseste Verhältnis zwischen zwei Menschen, wie Britta schreibt: Die Hirnareale zwischen Müttern und Töchtern ähneln sich sehr. Ein Buch über eine unvergleichliche Liebe, aber auch verunglückte und unglückliche Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, über Abschiede, Schicksale, Neuanfänge, tiefe Löcher und Chancen.
Ich denke heute auch an meine Mutter, immer mal wieder. Und an einen weiteren Satz aus Brittas Buch: „Es gibt eine Schuld dem Leben gegenüber. Leben zu dürfen, ist ein Privileg.“
In mir lebt eine unbezwingbare Ur-Angst: die, einen Zug oder Flug zu verpassen. An Reisetagen bin ich hochgradig nervös. Mein Zeitgefühl ist eigentlich gut, aber sobald ich eine Matrix im Kopf erstellen muss bestehend aus Abfahrts- oder Abflugzeit, Anreise zum Bahnhof oder Flughafen sowie meiner persönlichen Vorbereitung (Aufstehen, Duschen, Anziehen, Essen, Rest packen, Puls beruhigen, mich bei meinen Nächsten entschuldigen für meine Gereiztheit), bin ich ein Fall fürs Sauerstoffzelt. Unabhängig davon, ob ich nach Nepal fliege oder nach Königswusterhausen fahre.
Das Problem: Ich kann das nicht abstellen, zumal ich diese Panik für einen maßgeblichen Grund dafür halte, dass ich noch nie aus eigenem Verschulden Zug oder Flug verpasst habe.
Diese irrationale Sorge hat einen Nebeneffekt: Die Angstmauer vor meinem inneren Auge vor meinem Versagen baut sich zu e8nem dermaßen hohen und schier unüberwindlichen abgebildet auf, dass ich nichts anderes mehr sehe. Zum Beispiel, dass nicht nur ich zuständig bin für pünktliches Wegkommen. Das erschließt sich mir erst dann, wenn genau dieser Plan an anderen scheitert. Dann fällt es mir wieder ein: noch nie durch eigenem Verschulden.
Bevor ich hier weiter drechsle, sag ich, wie es ist: Ich sitze mal wieder in einem Zug, der nicht aus den Pötten kommt, in dem das Bistro dicht ist, in dem Masketragen als etwas dem Karneval Zugehöriges betrachtet wird, und in dem ich nicht auch nur einen einzigen Schluck Wasser zu mir nehmen werde. Denn wenn schon alles andere nicht funktioniert (wir bleiben auch dauernd stehen), möchte ich nicht in die Verlegenheit kommen, dasselbe in punkto Toilette feststellen zu müssen.
Nun entstamme ich einer Autofamilie (Vater Autoverkäufer, Bruder Autoverkäufer und Mechaniker, Mutter stets mit Feuereifer dabei). Dass ich mit 18 den Führerschein mache, war auch deshalb klar (und weil Gütersloh eine erstaunlich verschnarchte Stadt ist, ohne Führerschein versauert man). Und auch, dass ich sofort auf die Straße geschickt werde – um Auto zu fahren, meine ich natürlich, wegen der Praxis. Quasi schon an meinem 18. Geburtstag spannten meine Eltern mich ein bei der Auslieferung von Autoreifen, Felgen, Auspuffanlagen, Tieferlegungssätzen undsoweiter. Ich fuhr den Autoteilegroßhandelfirmen-eigenen Bulli. Einen großen Bulli. Ohne Rückspiegel.
Oft habe ich am Anfang ein bisschen gezittert, und oft wurde ich von den Schraubern, bei denen ich die Ware ablieferte, bestaunt, belächelt, ungefragt aus Parkplätzen rausnavigiert, fuhr ich wieder von dannen. Aber natürlich war das eine gute Schule. In aller Bescheidenheit würde ich von mir sagen, dass ich eine sehr gute Autofahrerin bin. Und eine leidenschaftliche bin ich auch. Ich schätze Unabhängigkeit, ich schätze Spontaneität, und ich singe sehr gerne sehr laut zu sehr lauter Musik. All das bieten mir weder Bahn noch Airlines. (Vielleicht scheitert der letzte Punkt aber auch schlicht an meinem Selbstbewusstsein, das ist möglich.)
Warum ich trotzdem, so wie jetzt, doch wieder im Zug sitze? Weil ich nicht nur Ur-Ängste habe, sondern auch ein Ur-Vertrauen. Oder vielleicht bin ich auch einfach nur doof. Immer wieder denke ich, wenn etwa eine Strecke wie Berlin-Hamburg ohne Probleme funktioniert hat: „Geht doch!“ Nur sind wir da ja schon beim grundsätzlichen Problem: Es ist nicht selbstverständlich. Das ist wie bei einer Bekannten, deren kleine Tochter augenscheinlich verhaltensauffällig ist, was aber lange niemand in der Familie wahrhaben wollte. Was jedoch um so deutlicher wurde, je öfter diese Bekannte hervorhob, zu welchen Gelegenheiten ihr Kind nicht komplett ausgerastet war.
Man suchte sich Hilfe bei einer Psychologin, lenkte das Dilemma also in – Achtung – gute Bahnen. Das sehe ich bei der – Achtung – Bahn aber nicht. Man überlegt ja schon drei Mal, ob man überhaupt was dazu schreibt, denn es ist so unoriginell.
Aber wissen Sie was? Wir meckern ja nicht deshalb dauernd, weil uns nichts Besseres einfällt, über das wir meckern können. Ich will ja gar nicht meckern. Ich will pünktlich ankommen. Und ich will nicht im proppenvollen Zug sitzen, in dem meine Vorderfrau am Telefon erst einen Termin absagt und sich dafür entschuldigt, dass sie das Versagen der Bahn nicht einkalkuliert hat, und diesen Termin dann nach einem weiteren Halt auf freier Strecke komplett absagt und ziemlich enttäuscht und laut „Scheiße“ sagt. Sie hat ja nichts falsch gemacht. Sie hat dieselben Maßstäbe an die Bahn angelegt wie an sich. Ich bin kein Psychologieprofi, würde aber sagen: gesundes Verhalten. Ich will keine Verantwortung übernehmen müssen für ein Unternehmen, das ein Totalausfall ist.
Totalausfall meint damit nicht, dass nichts funktioniert. Es bedeutet: Man kann nie davon ausgehen, dass alles funktioniert. Und Letzteres ist nun mal die Ausnahme. Ich kenne die Statistiken, dass alles eigentlich gar nicht so schlimm ist. Aber es ist mir vollkommen gleichgültig, ob jemand gestern komplett ohne Zwischenfälle von Freiburg nach Glückshausen bei Flensburg reisen konnte und den Zug mit einem tiefenentspannten Lächeln verließ, weil er alle Anschlüsse pünktlich erreicht hatte, kein Zug ausgefallen oder zu früh und ohne Vorwarnung einfach ohne ihn abgefahren, irgendwo seine Reservierung registriert worden war, der Cappuccino so gut (die Maschine also nicht kaputt und genug Milch an Bord), das Chili von Carne im Bistro lecker (Mikrowelle auch intakt). Gut, ich könnte diesen wahrscheinlich immer noch sehr relaxten Menschen anrufen, derweil ich total genervt im ICE von Berliner nach Düsseldorf sitze, wo sich ein Vierjähriger sehr auf den Besuch aus der Hauptstadt freut. Und mich von diesem Menschen beruhigen lassen, von seiner guten Laune anstecken. Aber das Szenario ist ja zirka ebenso unrealistisch wie ein konsequent guter Ablauf bei Nutzung der Deutschen Bahn.
Ich nehme das nächste Mal wieder das Auto. Ein riesiges Privileg.
Und, a propos unrealistisch: Viel Vergnügen im Sommer, Stichwort „9 Euro-Ticket“. So weit reicht nicht mal mein Ur-Vertrauen, um zu glauben, irgendjemand wäre darauf vorbereitet. Mir tun die Leute Leid, die echt drauf angewiesen sind.
„Nicole!“, schallt es über den langen Flur, der zu meinem Büro führt. „Du trainierst viel zu viel im roten Bereich. Dein Puls muss runter. Das ist nicht gesund!“
Die Stimme und die Ermahnung gehören zu Lieblingscutterin Annette. Annette hat sich vor einigen Monaten ein Sportgerät gekauft, das während des Lockdowns zum Highlight für sehr viele Menschen wurde. (Und zur Todesfalle für Mr. Big.) Und wie so viele andere, die ich kenne, ist sie nach wie vor total überzeugt von diesem Gerät. Ich wiederum habe mein Fitnessstudio während der Coronazeit zirka gar nicht gesehen. Wenn es so weitergeht, kann ich dasselbe demnächst von meinen Füßen behaupten.
Ein Trend, der gestoppt werden will, also hörte ich auf Annette und andere überzeugte Kundinnen und legte mir eben dieses Gerät zu. Eine nicht ganz unwesentliche Investition, aber da ich von meinen Eltern zum 40. (also einst) einen Crosstrainer geschenkt bekommen hatte – hier liebevoll „der Kleiderständer“ genannt -, konnte ich durch dessen Verkauf einen für meine schwäbische Hausfrauenseele verschmerzbaren Deal machen.
Nun steht das Gerät seit 10 Tagen in meinem Bad, und ich bin ebenso überzeugt. Sportlich – aber auch zeitgeistig.
Es ist natürlich, sagen wir es positiv, sehr individueller Sport. Ich hocke allein in meinem Bad auf dem Gerät, kann mich überdies noch zusätzlich über Bluetooth-Kopfhörer abschotten, und versinke im Training. Auf dem Bildschirm vor mir: ein Trainer oder eine Trainerin. Keine Menschen um sie herum (die Kurse werden seit Corona-Ausbruch ohne andere Sportelnde im Studio aufgezeichnet), niemand um mich herum. Anders als im Fitnessstudio. Keine gemeinsame Zeit, auf die wir uns geeinigt haben, kein gemeinsames Erlebnis im geschlossenen Raum.
Nur: Warum sollte mir das fehlen? Die Trainer sprechen die ganze Zeit (find ich super, die sind alle lustig, erklären gut), aber sie sprechen nicht pseudo-locker und menschelnd Mitturnende an, die schon seit Jahren dabei sind. Ich brauche niemanden, der vorturnt und gleichzeitig Gisela in der dritten Reihe fragt, wie denn eigentlich ihr Wochenendtrip war. Oder Helmut augenzwinkernd für sein neues, fesches Outfit lobt. Mag sein, dass Helmut das lustig findet und Gisela und viele andere solche Ansprachen mögen, weil sie suggerieren: „Wir sind hier alle eine große Familie!“ Es stört mich nicht, aber es fehlt mir auch nicht. Und ich habe trotz langjähriger Gym-Erfahrung auch noch nie spontan mit irgendeiner Gisela oder irgendeinem Helmut nach dem Workout noch nen Proteinshake getrunken. Ich geh da hin, ich mache da Sport, ich gehe da anschließend duschen (in Flip Flops, und das finde ich bescheuert), ich ziehe mich da wieder an, ich föne mir da mit einem Fön die Haare, bei dem ich die ganze Zeit den Knopf gedrückt halten muss, und dann gehe ich von mir aus Kaffee trinken mit einer Freundin, die ich nicht aus dem Fitnessstudio kenne.
Von denen könnte ich aber interessanterweise neuerdings gleich mehrere beim virtuellen Sport antreffen, wenn ich wollte. Wir haben alle einen Nutzernamen, es gibt Livekurse, man kann sich für diese miteinander verabreden und in dem Wissen, dass die andere dabei ist, zusammen trainieren – oder auch gegeneinander, im sportlichen Sinne, natürlich. Neulich trainierte ich lustigerweise zusammen mit einem Parteichef. Ich nenne keine Namen, aber der Mann ist fit, so viel verrate ich.
Zurück zu den Trainern: Die paar, die ich in meinen bisherigen Einheiten kennengelernt habe, verweisen alle auf ihre jeweiligen Social Media-Profile. Bei Instagram kann ich also nachlesen, welche Kurse Trainer Cliff in der kommenden Woche anbietet. Aber auch, wo er gerade Urlaub macht (Foto mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm) und welche Musik er mag. Ich kann ihm dort auch schreiben, wie ich das letzte Training fand und was ich ggf. für Probleme währenddessen hatte.
Cliffs Arbeitgeber taucht sehr offensiv im Bild als Logo auf, Cliff ist mehrheitlich in seinem Job zu sehen. „Privat hier“ ist hier nicht – und genau das ist offensichtlich auch gar nicht gewollt. Man profitiert voneinander, so scheint das Credo zu lauten. Die große Marke etabliert die eigenen Leute als individuelle Marken, ohne den Kontrollverlust oder eine Konkurrenz dadurch zu fürchten. Interessant wäre, ob das Haus Social Media-Regeln an seine Mitarbeiter definiert hat. Eine andere Trainerin ist mittlerweile Gast in Podcasts, Aktivistin und Buchautorin. Als George Floyd von einem Polizisten getötet wurde, thematisierte sie seinen Tod und die Black Lives Matter-Bewegung in ihren Kursen – in denen sich bis zu über 20.000 Teilnehmer zusammenfanden. Eine politische Bewegung im absoluten Wortsinn.
Genau so wie die eingangs angesprochene Vernetzung. Annette und ich folgen einander auf der Plattform. Deshalb kann sie auch nachvollziehen, dass ich vorgestern tatsächlich viel zu lange im hochroten Pulsbereich trainiert habe. Da hatte ich einen ehrgeizigen Tag und habe einen Kurs gewählt, für den meine Kondition ganz offensichtlich noch nicht ausreicht.
Nun bin ich eher vernünftig veranlagt und in meiner Selbsteinschätzung Realistin: Ich mache das genau einmal, und dann bin ich die Tage danach so angestrengt allein vom Gedanken daran, wieder Sport zu machen, dass die Gefahr wächst, mir einen neuen, unverhältnismäßig teuren Kleiderständer angeschafft zu haben. Deshalb belege ich bis auf Weiteres wieder mir angemessene Kurse. Die für Anfänger.
Trotzdem ist es gut, dass Annette mich auch noch mal dran erinnert. Ich bin und bleibe Fan sozialer Kontrolle. Ach so, Stichwort Kontrolle: Annette hat bereits die Schattenseiten unserer neuen Sekte ausgemacht. „Ich hab meinen Account jetzt gesperrt“, sagt sie. „Wenn du regelmäßig trainierst und plötzlich ist da zwei Wochen Ruhe in deiner Statistik, wissen die Leute ja, dass du in Urlaub bist. Tolle Info für Einbrecher!“
Recht hat sie. Sie könnte das Problem allerdings auch anders lösen: In den zahlreichen Communities, die sich rund um das Gerät gebildet haben und in denen reger Austausch herrscht, kann man Hotels nachlesen, die das Gerät in ihren Fitnessräumen anbieten. Mir persönlich ginge das jedoch zu weit. Das hätte dann doch zu viel von „Urlaub mit Helmut und Gisela“.
Sonntag also eine Lesung vor echt anwesenden Leuten. Meine zweite in dieser Form seit mein Buch vor – oh, Moment, HEUTE GENAU EINEM JAHR rausgekommen ist. Sekunde, kurz twittern und danke sagen!
So. Weiter. Kurz vor Erscheinen vergangenen Frühling unterhielt ich mich mit zwei Autorinnen, die schon mehrere Bücher veröffentlicht hatten. Sie seien so traurig, sagten sie unisono, weil durch Corona so gut wie keine Lesungen stattfinden würden. Die seien aber das Tollste am Bücherschreiben!
Ich las erst mal digital. Saß in meinem Arbeitszimmer, blickte auf meinen Computerbildschirm in Zoom-Räume und in interessierte Gesichter von Menschen, die wiederum vor ihren Rechnern saßen. Digitale Lesungen, habe ich mir als Neuling erklären lassen, funktionieren anders als analoge. Die Leute können oder wollen am Bildschirm nicht so lange zuhören, sondern lieber diskutieren, lautet die Begründung. Finde ich gut, klappte gut.
Und dann kam meine erste „echte“ Lesung. Auf einem Literaturfestival in Bayern, mitten im Sommer. Draußen, pandemiekonform. Ich freute mich wie Bolle, war stolz wie Oskar, suchen Sie sich was aus. An einem frühen Samstagabend sollte ich dort lesen. Perfekt, dachte ich, und zuckelte mit der Bahn los. Davon mal abgesehen, dass ein Mann mir beinahe die Visage poliert hätte, weil ich ihn ums Masketragen gebeten hatte, verlief die Fahrt super. Ich ging noch mal die zu lesenden Passagen durch, bereitete mich auf mögliche Fragen vor, prägte mir den zirka 50 Meter langen Weg vom Bahnhof in meine Unterkunft ein. Ich war vorbereitet. Im Kopf.
Auf die niederschmetternde Praxis jedoch war ich nicht vorbereitet gewesen: 12 Leute waren da. Das war der Peak. Schwitzend, mit meinen Beinen hinunterlaufendem Schweiß saß ich vor ihnen, las, antwortete auf die Fragen meiner Moderatorin, und betete, es möge bald vorbei sein. Neben der niedrigen Zahl an Gästen gab es nämlich einen weiteren Unterschied zu digitalen Lesungen: Ich bekam 1:1 mit, kramte jemand während der Veranstaltung sein Mobiltelefon hervor oder lenkte sich anderweitig von meinen Inhalten ab. Menschlich, aber auch sehr verunsichernd.
Im Nachhinein stellte sich raus: Parallel zu mir absolvierte die Nationalmannschaft gerade ein EM-Spiel. Weil die deutsche Elf spielte, kamen zu mir nur zwölf. (Rede ich mir ein, lassen Sie mich bitte in dem Glauben, danke!)
In Essen sind jetzt schon mehr Leute angemeldet, und das ist schön. Das kleine Trauma (kleiner Scherz, es ist natürlich kein echtes Trauma) kann ausgemerzt werden. Denn es ist definitiv noch vorhanden: Gestern telefonierte ich mit einem Mann von der New York Times – der hier seinen Angaben zufolge mitliest, also schöne Grüße! – und erzählte, dass ich an meinem nächsten Buch sitze. Er fragte nach dem Erscheinungsdatum. Und ich registrierte, wie ich innerlich zurückwich und einen Termin zirka 2025 vor meinem inneren Auge erschien. Dann, so meine Hoffnung, ist erstens Corona kein Thema mehr für Veranstaltungen, und zweitens haben sich die Leute aber auch wieder entwöhnt von der digitalen Teilnahme an derlei Events. Die sind nämlich, ist zu hören, auch jetzt wirklich spärlich besucht.
Meinen Groll auf die Nationalmannschaft habe ich übrigens wieder im Griff. Es sind Fußballer. Sie sollen kicken, nicht Termine managen. Natürlich sind die nicht immer perfekt in ihrem Timing. Da bin ich generös.
In der Linkspartei ist Schlachtfest. Schlacht im doppelten Wortsinne: Das, was wir da lesen, ist ja verbaler Krieg innerhalb einer Partei. Gleichzeitig wird mehrlei gemeuchelt, vor den Augen einer staunenden Teilöffentlichkeit, die das Nischenmedium Twitter nutzt: Anstand, Respekt, der Ruf der Linken – und der eigenen.
In den vergangenen Wochen hab ich das ein- oder andere Mal überlegt, ob ich nicht falsch liege mit meiner Appell an alle, die sozialen Medien zu nutzen, um den extrem agierenden Rand dort zu schwächen. Um die Hater zu übertönen. Und mit meiner Analyse, dass Transparenz auch politisch Handelnder per se eine gute Sache ist.
Zum einen kam ich ins Nachdenken, weil das Beifallheischende beim ein oder anderen anfing, zu nerven. Als bei Markus Lanz noch Zuschauer im Studio saßen, konnte man bei vielen Talkgästen an Gesichtsausdruck, Satzbau und Pausensetzung nach einer Aussage peinlich genau erkennen, dass sie jetzt Applaus erwarteten, weil einkalkuliert hatten. Dann kam Corona, das Publikum musste zu Hause bleiben mit maximal einem anderen Haushalt, Kinder unter 14 zählten nicht, und die Atmosphäre des Talks änderte sich.
Manche schienen in den sozialen Netzwerken ein gutes Ausgleichsinstrument gefunden zu haben. Das hat einerseits Vorteile für die Mitlesenden, denn in aller Regel lässt sich das Klatschen bei Twitter etc. gut zuordnen. Kommt er von Parteifreunden, zieht man diesen Faktor eben ab. (Bei der Linken muss man das vielleicht noch mal überdenken, da scheint sich der Umgang miteinander ja an völlig anderen Maßstäben zu orientieren. Das stellt sogar die AfD in den Schatten, und da gehen die Lager auch nicht gerade zimperlich miteinander um.)
Andererseits ist Applaus bei Twitter und Co. ja Massenware. Ich meine nicht nur den für komplette Ausfälle, ich meine auch Tweets, die auf „Ich gehe jetzt mal schreien“ oder anderen Phrasen enden. Unterkomplexität zieht auch meistens ganz gut.
Zum anderen kam ich ins Nachdenken, weil ich nicht abzuschätzen vermag, wie viel Schaden Dialoge wie der oben zitierte bei ohnehin politikverdrossenen Leuten anrichtet. Aber das ist ja Quatsch. Wenn es so ist, denn ist es eben so. Warum sollen die Wähler glauben, es läuft, wenn man einander bisher hinter den Kulissen mit Gülle übergießt? Menschen haben ja ein Recht auf Wissen. Mit den plumpen, aber harmlosen Tweets, die auf billigen Beifall setzen, kann man ja leben. Und: Die sagen ja auch was aus, liefern also quasi Metadaten. Bei Lanz will man übrigens dauerhaft auf Publikum im Studio verzichten.
Zurück zum Ausgangspunkt und dem Recht auf Wissen und Bildung, man muss ja immer auch das Gute sehen: Was haben wir alle nun durch die obige, unappetitliche Episode gelernt? „Beleidigte Leberwurst“, wie der ukrainische Botschafter den Kanzler genannt hat, ist im Vergleich geradezu ein Kompliment. Hätte ich bis heute Morgen so auch nicht mit gerechnet.
Ich will das inhaltlich gar nicht bewerten, was er in Düsseldorf gesagt hat, weil es arg nachgeklappt wäre, wie man im Nachrichtenjournalismus sagt. Hier übersetzt: Sehr spät würde ich in die Debatte einsteigen, und als Nachrichtenjournalistin darf einer so etwas ja nicht passieren. Spät, weil: Scholz ist als Kanzler schätzungsweise einigermaßen eingebunden in Entscheidungen wie die, nun doch (wenn auch alte) Panzer an die Ukraine zu liefern. Also wird ihm der Gedanke schon vor dem 1. Mai gekommen sein, dass schwere Waffen für die Ukraine das Gebot der Stunde sein könnten. Abstimmungen im Bundestag sind aber nicht laut, und Scholz war es am 1. Mai deshalb, weil man ihn sonst aufgrund von ihrerseits lauten Protestlern in Düsseldorf nicht so gehört hätte. Vielleicht auch nicht so gut verstanden,
Es ist demnach eher nicht damit zu rechnen, dass der Kanzler künftig SEINE STANDPUNKTE UND ENTSCHEIDUNGEN NUR NOCH IN GROSSBUCHSTABEN VERKÜNDET, WEIL ER JETZT NÄMLICH ANDERE SAITEN AUFZIEHT.
In den sozialen Netzwerken sind Äußerungen in Versalien seit jeher ein untrügliches Zeichen, es mit jemandem zu tun zu haben, dem die Argumente fehlen und/oder die Manieren, da sind die Grenzen manchmal fließend. Tweets in Großbuchstaben erleichtern den Alltag, denn man sieht auf den ersten Blick: Damit muss man sich nicht lange aufhalten und kann sich Wichtigerem zuwenden.
Nun ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass eine zweifelhafte Anpassung auch bei denen stattfindet, die können und wollen. Die Verkürzung der Argumentation, die Reduktion des Argumentationswillens. Beides könnte einer sehr menschlichen Neigung entspringen: der zur Steigerung der Effizienz. Warum, hab ich mich auch schon oft gefragt, soll ich überhaupt in die Tiefe gehen, wenn es hier eh keinen großen Resonanzboden dafür gibt? Das Interesse an Ausgewogenheit ist in den sozialen Netzwerken quasi wegprogrammiert worden. Pick your fights, sagen sich also anscheinend Viele, und beteiligen sich (dabei sein ist alles, vornehm schweigen ist ebenfalls nicht vorgesehen im Social Media-Kosmos) am eher holzschnittartigen Stakkato-Denken und -Formulieren.
Und so ist die Empörung um den offenenBrief an Olaf Scholz an vielen Stellen (hier der Hinweis an das Team „Holzschnitt“: nein, nicht an allen), groß. Die Unterzeichner, so lese ich an vielen Stellen, haben die Bezeichnung „Intellektuelle“ nicht verdient. Man habe sich jahrelang in [hier den Namen eines der 28 Erstunterzeichner einsetzen] getäuscht. Seitdem Initiatorin Alice Schwarzer in einem Interview konsequent „Ukraine“ und „Ungarn“ verwechselt hat, ist eh klar: Der offene Brief ist das Werk Grenzdebiler.
Man kann das so machen. Aber: Man macht dann eben auch dabei mit, Diskurse nachhaltig und prinzipiell zu verflachen. Und dabei, die Fähigkeit und vor allem: die Bereitschaft, Menschen und ihre Argumente erst mal nicht in eine der beiden Schubladen namens „Mein Team“ und „Gegnerisches Team“ zu stecken. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Harte Kritik muss sein, sonst ist der Diskurs nicht erwachsen. Aber das ist „Kritik“ à la: „Ha ha, die sagt immer ‚Ungarn‘“ ja auch nicht.
Vielleicht, nur mal hypothetisch angenommen, ist es ja möglich, das intellektuelle Potenzial, über das man verfügt, für zweierlei zu nutzen: Erstens abzuziehen, dass man sich durchaus in Live-Situationen im Fernsehen verspricht. Wer das ein- oder zweimal ohne Teleprompter und überdies in kontroversen Situationen gemacht hat, weiß das und wird sich hüten, sich bei anderen darüber lustig zu machen oder es auch nur als Beleg für geminderte Denkfähigkeit zu betrachten. Und zweitens für die Anerkennung der ja eigentlich sehr basalen Tatsache, dass eine andere Meinung nicht gleich komplette Bescheuertness bedeuten muss.
Hier noch einmal für den Freundeskreis „schnell, schmutzig, Aufmerksamkeit heischend und bequem“: Ich verteidige hier nicht den Inhalt des offenen Briefs. Ich gehe nämlich gar nicht auf den Inhalt ein! Das ist hier gar nicht das Thema. Und ich setze den Hass-Mob nicht gleich mit Debatten verkürzenden und es sich in ihrer Bubble bequem gemacht habenden anständigen Leuten. Nur sind die eben auch dafür verantwortlich, dass Respekt herrscht. Und diese Herrschaft unangefochten bleibt.