Es gibt viele Arten des Schweigens. Das nachdenkliche Schweigen. Das hilflose Schweigen. Das beredte Schweigen. Das überwältigte Schweigen. Das solidarische Schweigen. Das kontemplative Schweigen. Vernichtendes Schweigen.
Schweigen, so es denn bewusst gewählt ist und nicht aus einer situativen Unfähigkeit heraus entsteht, kann die eleganteste Form der Reaktion sein. Aber auch die aggressivste. Im Prinzip lässt sich jedes Gefühl mithilfe von Schweigen ausdrücken – vorausgesetzt, wir unterstützen es mimisch, körpersprachlich.
Und da sind wir dann auch schon beim Problem: Die sozialen Medien sind fürs elegante Schweigen nicht gemacht. Lassen wir die Algorithmen mal beiseite, die das Brüllen mehr lieben als alles andere – so weit müssen wir gar nicht gehen. Wer sich zu einem Thema nicht äußert, wer auf eine direkte Aktion nicht reagiert, steckt in der Klemme. Denn bis heute haben wir, die wir die neuen Medien gar nicht mehr so neu finden, noch immer keinen eleganten Weg fürs elegante Schweigen dort gefunden. Erinnern wir uns nur an die Losung „Don’t feed the troll“, indem wir einander ermutigten, die Pöbler, den Mob einfach zu ignorieren. Ich denke, wir sind uns einig: Dieses Experiment ist gescheitert. Die Schlauen unter den Brutalen wissen, dass sie den Dummen weismachen können, unser Schweigen als Reaktion auf ihre Beschimpfungen, Unflätigkeiten und zivilisatorischen Entgleisungen wäre der Beleg für unsere Feigheit oder unsere Unfähigkeit, uns zu wehren. Man schaukelt sich also noch weiter hoch. Und die Feigen unter den Dummen fühlen sich ermutigt, mitzumachen – droht ja keine Reaktion außer dem Jubel der Ihren. Der Mob ist mit den Jahren größer geworden, wohl nicht zuletzt deswegen. Nur: Reagiert man, und das dann auch noch emotional, beweist man diesen Leuten die Wirksamkeit ihrer Angriffe. Und auch das feuert sie an. Es ist ein Teufelskreis, im wahrsten Sinne des Wortes. In den den sozialen Medien ist Schweigen keine Reaktion.
Zurück zum eigentlichen Thema, ich schweife ab. Schweigen ist also keine Option, denn entweder wirken wir dadurch passiv und ertappt – oder aber: desinteressiert. Denn obwohl das ja, siehe oben, eigentlich gar nicht geht, Desinteresse qua Schweigen zu äußern, suggerieren ein paar ganz Findige das Gegenteil, wenn es ihnen in die Karten spielt. Um das mal anschaulicher zu machen: Ich bin nun kein Superstar, aber ein paar Follower habe ich schon. Und wie jeder Mensch mit mehr als sagen wir mal 50 Leuten, die ihm folgen, habe ich darunter auch solche, die mich hassen. Nicht mich persönlich, denn niemand, der mich aus Social Media kennt, kennt mich. Aber sie hassen das, wofür ich ihrer Ansicht nach stehe. Und freuen sich über jede Gelegenheit, mir einen mizugeben. Ereignet sich nun beispielsweise ein Amoklauf, ein antisemitischer Anschlag, ein islamistischer Terrorakt oder eine andere Katastrophe, über die alle sprechen, schreiben und bestürzt sind, und ich schreibe in den sozialen Medien nichts dazu, dann taucht früher oder später immer einer auf, der twittert: „Hier, da, seht her! Nicole Diekmann! Nichts hat sie dazu geschieben! Das ist der letzte Beweis: Sie ist Antisemitin/Waffennärrin/Islamhasserin!!!“
Nur: Genauso wenig, wie ich ein Superstar bin, bin ich ein Übermensch. Manchmal fällt mir schlicht und einfach nichts wirklich Treffendes ein, das ich posten möchte. Manchmal bin ich noch nachdenklich und möchte nichts übereilen. Manchmal führe ich vielleicht auch gerade mein analoges Leben und tauche mich da aus über die Geschehnisse. Manchmal arbeite ich und kann nicht twittern/instagrammen (zu diesem Medium aus der Hölle der Eitelkeiten gleich noch mehr). Manchmal beschäftige ich mich gerade mit etwas anderem, auch das soll es geben. Und das finde ich eigentlich auch völlig ok, denn: Der Bundespräsident bin ich ja auch nicht. Kein Staat der Welt wartet darauf, dass ich ihm meine Solidarität und die des gesamten deutschen Volkes erkläre und dass wir allesamt an seiner Seite stehen. Niemand empfindet es als Affront, wenn ich nicht zum Ort des Geschehens reise. Auch Angelina Jolie bin ich nicht (ein paar Jahre lang hätte mir das gefallen, aber wenn Brad Pitt wirklich so viel Gras raucht, wie man liest, dann doch wieder nicht), und auch „Nachrichtenagentur“ steht nicht auf meiner Visitenkarte. Was ich aber vor allen anderen Dingen nicht bin: ein Genie.
Es gibt Dinge auf dieser Welt, von denen hab ich gerade mal so viel Ahnung, dass ich darüber maximal auf meinem Balkon mit meiner Freundin Eva reden würde. Nicht zuletzt, weil die immer sehr gut in Themen ist, eine eigene, mich bereichende Sicht auf die Dinge hat und im Ernstfall nicht davor zurückscheut, mir zu sagen, dass ich großen Stuss erzähle. Eva will mir was. Aber lediglich was erklären, wenn nötig. Oder ausreden. (Oder mir auch zustimmen, ich erzähle manchmal auch richtige Dinge und habe hier und da sogar Ahnung.) Wie man das im freundlichen Umfeld halt so tut. Die sozialen Medien sind aber kein freundliches Umfeld, und deshalb halte ich es da so, wie die Omma immer sagte: „Schweigen ist Gold“. Lieber lasse ich Leute darüber spekulieren, ich könnte ein bisschen doof sein, als den Beweis in einer konkreten Frage für alle nachlesbar tatsächlich mal zu liefern. Ich halte es für hochintelligent, zu wissen, worüber man zu wenig weiß.
Jetzt gibt es aber leider Leute, die können es einfach nicht. Die sind nicht in der Lage, EINMAL NICHTS ZU POSTEN, auch auf die Gefahr hin, nicht dabei zu sein. Es ist Digital-Fomo, Fear of Missing Out. Den Buzz nicht mit am Laufen zu halten, die Chance auf ein paar Likes, Follower und 15 Sekunden Timeline-Ruhm verstreichen zu lassen – manche scheint es unerträglich zu peinigen. Atomphysik, Virologie, Ballistik, internationaler Zahlungsverkehr, Energiesicherheit, um nur die großen und komplexen Themenblöcke der vergangeen Monate zu nennen – es gibt Menschen, die wissen alles. Und zwar über all diese Themen. Diese Menschen folgen – bestimmt unbewusst – dem Diktat des reflexhaften, aber oft unreflektierten Kommentierens von A L L E M. Daraus entsteht eine Mischung aus Presseclub, Stammtisch und „Doppelpass“. Es verschieben sich die Grenzen. Kein Eis des Halbwissens scheint mehr zu brüchig, und sei es auch oblatendünn.
(Und wenn Leute nichts, aber auch gar nichts Inhaltliches beizusteuern wissen, um noch einmal auf Instagram zurückzukommen, schauen sie ausdrucksstark in die Ferne, fotografieren sich dabei, wählen den Schwarz-Weiß-Filter, und schreiben ein paar Sätze darüber, was das Leid anderer Menschen mit ihnen macht. Kein Grad der Egozentrik scheint mehr zu pietätlos.)
Das nervt, das nervt mich persönlich, aber das soll Sie nicht zu sehr bekümmern, ich komme klar. Das Problem ist weit größer. „Wir müssen uns bewusst sein, dass wir gerade mit jedem Post, der über den hippiehaften Wunsch nach Frieden hinausgeht, aktiv in einen Krieg eingreifen. Wenn die EU ernsthaft diskutiert, ein Land aufzunehmen, dass sich im Krieg befindet und auf absehbare Zeit die Bedingungen nicht erfüllen können wird, dann ist das eine Eskalation, die digital mitbefeuert wurde“, schreibt Julia Werner in der Süddeutschen in einem sehr lesenswerten Essay über unser aller Verantwortung. Ich twitterte den Text – der sich hinter einer Bezahlschranke befindet. Prompt meldete sich ein Follower mit Kritik, die erkennen ließ, dass er den Text nicht gelesen hatte. Meinen Hinweis darauf, dass doch erstmal zu tun, konterte er mit „Paywall“. Tja. Bevor man gar nicht kommentiert, kommentiert man eben lieber etwas, das man nicht kennt. Lieber mal die Kresse halten? Viel zu riskant.