10. März 2022

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Ich sage das wirklich nicht oft, aber die Gelegenheit und der Anlass, ja, die dringende Pflicht, möchte ich fast sagen, ist da: Vieles wäre besser ohne Social Media. Zum Beispiel das – wie paradox! – Image von Gerhards Schröder Frau. Es waren auch schöne Zeiten, damals, ohne Smartphones, als man nicht alles voneinander mitbekam. Oder mitbekommen bekam.

Die letzten Tage haben mir noch mal eindrücklich gezeigt, warum ich Team Twitter bin und nicht Team Instagram. Dieses Sich-Zurschaustellen, dieses egozentrische und dadurch – je nach individuellem Geschick in der Intensität variierend plumpe – Herumbauen von Themen um das eigene Antlitz – schlimm. Twitter ist das härtere Medium, aber Instagram das brutalere in seiner Oberflächlichkeit. Vielleicht auch das ehrlichere.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie viel mehr Zuneigung man dort erhält, postet man ein Selfie. Das sind schnell verdiente Herzchen. Aber auch relativ billig verdiente. Eine Frage des Anspruchs an sich selbst und an sein Publikum. Sage mir, wer dich wofür beklatscht, und ich sage dir, wer du bist.

Und, tatsächlich erstaunlich: Während Twitter schwankt zwischen sehr lustigen und sehr zynischen Memes (es ist alles schlimm genug, deshalb nur der Verweis auf zwei lustige: hier und hier), regnet es bei Instagram rote Herzen für Soyeon Schröder-Kim. Ob jemand in dem Moment, für den Twitter sie verachtet und Instagram sie liebt, das Telefon hielt und ihr zurief: „Guck mal noch ein bisschen ind ich gekehrter!“? Oder: „Sieht schon super aus, aber vielleicht nicht ganz so ernst, das mögen die Leute nicht, mach mal ein bisschen verträumter!“? Vielleicht ihr Mann, der durch die Suche nach der perfekten Inszenierung in Zeitnot kam, Putin anrufen musste und ihm vorlog, im Stau zu stecken? Oder saßen die beiden Männer und Freunde da längst zusammen und sprachen – hoffentlich – über gesichtswahrende Wege für Putin raus aus dem Krieg, den er gegen die Ukraine führt? Ob Frau Schröder-Kim irgendwann total genervt von den Regieanweisungen die Augen öffnete, in scharfem Ton zischte: „Jetzt mach!“ – und dann zurückfiel in die sanfte Pose? Wegen The Show must go on?

Oder war sie allein und hatte ein Stativ aufgestellt und den Selbstauslöser betätigt? Oder, jetzt noch mal ganz anders gedacht und in seiner Normalität schon wieder absurd, denn hier geht es ja um Instagram: Stand sie womöglich wirklich gerade in dieser Pose vor dem Fenster, jemand sah sie zufällig dabei und hatte Glück mit dem Timing: Weil das Gebet innig und lang war, hatte er genug Zeit, das perfekte Foto zu machen? („Schießen“ wollte ich schreiben. Oh Mann.) Ohne, dass sie etwas davon bemerkte? Abwegig, ich weiß, aber spinnen wir das mal weiter: Wenn es so gewesen wäre, muss das Foto ja anschließend zu ihrer Kenntnis und in ihren Besitz gekommen sein. Das Endprodukt ist also gewollt. Und die Aufmerksamkeit. Plus die Anerkennung. Sogar ein Filter liegt drüber, ihr Gesicht wirkt leicht pixelig.

Alle sind verrückt geworden.

„Aber wenn dann morgen der Krieg vorbei ist entschuldigen wir uns alle bei #schroeder und seiner Frau“, antwortet jemand auf meinen Tweet, in den ich das Foto eingebaut habe. Das soll es mir wert sein.

9. März 2022

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Zweimal habe ich mich heute entsetzlich geschämt.

Das erste Mal, als ich die Push-Meldungen las über die Bombardierung einer Geburtsklinik in Mariupol mit Frühchenstation und dachte: „Wie kann man denn so etwas machen? Menschen töten, die völlig wehrlos sind? Die entweder gerade Leben geschenkt oder geschenkt bekommen haben? Die Kleinsten, Wehrlosesten, Unschuldigsten? Und geschundene Frauen, die Monate lang wachsendes Leben in sich getragen und es behütet haben? Wie barbarisch ist das?!“

Nur: Was im Krieg ist denn nicht barbarisch? Wer bin ich, zu qualifizieren? Denkt man das konsequent zu Ende, ist ja die logische Schlussfolgerung meines Gedankens, Ziele aufzuzählen, die anzugreifen nicht so schlimm wäre. Monströs.

Der zweite Moment der Scham: der, als das Deutsche Rote Kreuz berichtete, dass der so genannte Fluchtkorridor vermint gewesen sein soll. Da war ich entsetzt. Das heißt ich war es vorher nicht. Putin hat die Ukraine erst vor zehn Tagen überfallen. Und schon ist ein gewisser Gewöhnungseffekt bei mir eingetreten. (Und es hat mich Tage gekostet, um zu erkennen, dass „Fluchtkorridore“ nichts anderes bedeuten als Vertreibung. Die Alternative wäre ja Tod. Denn dass der Aggressor nicht aufzuhören gedenkt mit seinem entsetzlichen Treiben, impliziert seine Machtdemonstration in Form der Gewährung von „Fluchtkorridoren“ ja.)

Vielleicht ist Scham das Gefühl, das mein Unterbewusstsein dem der Ohnmacht vorzieht.

Vier Jahre lang war ich Krisenreporterin. Über so etwas Furchtbares wie Putins Krieg musste ich während dieser Zeit nicht berichten, bei Weitem nicht. Ein paar Situationen waren aber schon dabei, die mich sehr berührt haben. Und die schwer auszuhalten waren. Was geholfen hat, ich bin erst nach einiger Zeit darauf gekommen: dass ich denen eine Stimme geben konnte, die Hilfe brauchten. Und das Wissen, dass nach meinen Beiträgen und Live-Schalten Spendentafeln eingeblendet wurden. Zumindest dort, wo Katastrophen stattgefunden hatten und kein strukturelles Elend herrschte, war das ein Trost. Für mich. Da ist es wieder.

In den Krieg eingreifen werden wir wohl nicht. Alle Diplomatie ist bislang gescheitert. Wir sehen Bilder von Toten, von Abschieden. Kleine Gesichter hinter Busfensterscheiben. Wir sehen tapfere ukrainische Kämpfer. Aber wir sehen auch auf der Weltkarte, wer da gegen wen kämpft. Wir sehen und hören eine Reporterin an der polnischen Grenze berichten, dass die ersten, die ankamen, noch weinten. Weil sie – im zeitlichen Sinne – vor dem Krieg geflohen waren. Die, die jetzt ankommen, können nicht mehr weinen. Weil sie unter Schock stehen. Sie sind im Krieg geflohen. Es ist eine Klemme, aus der die Menschen in der Ukraine nicht herauskommen. Aus der die Welt nicht herauskommt.

Die einen versuchen sich emotional aus dieser Klemme zu befreien, indem sie zum Hauptbahnhof hier in Berlin und an andere Orte gehen und Ukrainern bei sich zu Hause Obdach gewähren. So wie meine russische Bekannte. Viele, sehr, sehr Viele spenden. Auch nicht Wenige verfolgen bewundernd das Handeln des unglaublichen Präsidenten Wolodimir Selenskij.

Nächstenliebe, Heldenverehrung und Großzügigkeit sind kolossal bessere Gefühle als Ohnmacht.

Ich schäme mich. Auch für das Wort „Ich“, das so oft in diesem Text vorkommt. Aber ich kann das nicht auflösen.

8. März 2022

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Jahrzehntelang investieren Fernsehsender in höchstauflösende Kameras, immer state of the art, perfekte Beleuchtung, die Zuschauer ansprechende und gleichzeitig Thema und Atmosphäre der jeweiligen Sendungen abbildende Studios. In gut ausgebildete Leute in Regien, hinter Kameras, am Tonmischer, in der Maske. Und dann gewöhnt sich die Kundschaft nach und nach an MTV-Zooms, Studios wie das von BILD TV und an verwackelte, mit Handykamera und -Mikro aufgenommene Videos, weil ja alle Bürgerreporter sind.

Authentizität ist ein hohes Gut in der Politik. Es lohnt sich, so zu wirken wie der kleine Mann auf der – wie passend – Straße. (Geringverdiener oder fleißig arbeitend – zumindest in der Logik von Tobias Hans muss man sich da allerdings dann doch entscheiden.) Also, ab zur Tanke, Hemd ordentlich gebügelt, es gibt ja doch Grenzen, und dann nix wie los mit Video, das Handy in der eigenen Hand haltend. So als wäre dieses Filmchen spontan entstanden, aus einem Gefühl (auch ganz wichtig) heraus. Weil Tobias Hans gerade alleine tanken war und beim Bezahlen fast vorne rüber geschlagen wäre vor Schreck. Der Sprit! So teuer! Er hatte ja keine Ahnung! Woher auch? Tobias Hans ist Politiker, und Politiker sind Menschen. Auch Politiker im Wahlkampf. Die lesen auch mal tagelang keine Zeitung, gucken keine Nachrichten. In Kriegszeiten muss man da emotional auch auf sich aufpassen und sich innerlich hin und wieder rausziehen. Und trotzdem, auch wenn er gerade nicht up to date ist: Tobias Hans ist ein Mensch, und manche Menschen sind Politiker. Zum Beispiel Tobias Hans. Irgendwo im Hinterkopf weiß er: Da war was. Am 27. Kommt der Zählerableser? Nee. Zahnarzt? Auch nicht. Ah. Wahl ist! Im Saarland! Das Hans regiert, als Ministerpräsident. Welch ein glücklicher Zufall, dass er gerade tanken ist und r-i-c-h-t-i-g sauer: Spritpreis, down to earth-Attitüde, versehen mit einem Hauch Spontaneität – das könnte er sein: der Booster – ah sorry, falsches Thema: der Turbo für den Wahlkampf!

Also nicht erstmal in der Staatskanzlei das Team zusammentrommeln, mit der Agentur sprechen und dann in ein paar Tagen was Hochwertiges fürs gute alte Fernsehen drehen – nope, ein Handyvideo für die sozialen Netzwerke, jetzt sofort, das isses. Frei nach Hape Kerkeling: „Sonst ist es nicht echt, sonst ist es nur platt.“

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Ob das nun verfängt (also, Tobias Hans meine ich, Hape Kerkeling verfängt ja immer), wird sich am 27. zeigen. Ikonographisch aber ist das in jedem Fall jetzt schon interessant. Wenn künftig Handyvideos das Ding sind, nicht mal mit Selfiestick gedreht, sondern mit Arm, ohne Schnickschnack, also back to the roots, back oder das erste Mal – jetzt frei nach Tocotronic – überhaupt im Leben Teil einer Graswurzelbewegung sein – dann, Leute, dann komm ich groß raus: iPhone 173 kann jeder. In meiner Küchenschublade liegt ein iPhone 1, das noch funktioniert. Wenn schon authentisch, dann ja wohl perfekt authentisch!

7. März 2022

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Cathy Hummels ist entsetzt, schreibt sie auf Instagram (Facebook-Mutterkonzern Meta, zu dem Insta gehört, lässt hier kein direktes Einbetten mehr zu, deshalb ein Link) ob mancher Reaktionen auf einen vorherigen Post von ihr. Diesen Post verlinke ich hier nicht. Warum nicht? Hätte ich nicht festgestellt, dass Teile meines Wortschatzes nie, aber besonders jetzt nicht, angemessen sind, würde ich jetzt schreiben: „Weil Cathy Hummels den Schuss nicht gehört hat.“ Achten Sie mal einen Tag lang auf Ihre Wortwahl. Ich war wirklich erschrocken, wie stark sich Kampfrhetorik eingebürgert hat bei mir. Und ich verdiene mein Geld mit Sprache. Beschämend.

Cathy Hummels hingegen ist nicht beschämt, sondern fühlt sich missverstanden und ungerecht behandelt. Hummels, Spielerfrau und Influencerin, hat am Tag zuvor ihre Version von „Anteil nehmen am Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine“ bei Instagram gepostet. Dafür hat sie sich vor eine gelbe Wand gestellt, dabei ein blaues Oberteil getragen sowie eine sehr teure Handtasche, auf einem Bild ihr linkes Bein abgewinkelt gehoben und ihr langes, zum Zopf gebundenes Haar gefasst und ebenfalls in die Höhe gehalten. Auf einem anderen Foto der Serie sitzt sie neben der Tasche und vor der Wand und lacht in die Kamera. Das Einzige, das an diesen Bildern Sinn ergibt und Hummels‘ Gedankengänge nachvollziehbar macht, ist die Farbkombination. Gelb und Blau, ukrainische Flagge, logisch. Warum Hummels lacht, warum eine Luxustasche mit aufs Bild musste, warum sie ihren Pferdeschwanz – egal, Sie wissen, was ich meine.

Nun ist nicht jeder Mensch auf dieser Welt politisch, und auch diejenigen, die es sind, vielleicht sogar gerade die, freuen sich dieser Tage über Abwechslung. Rührselige Filme, ein Gang durch den Wald, eine Ausstellung – die Seele meldet sich bedürftig zu Wort. So rechtfertigt sich Hummels auch: Lachen sei doch gerade jetzt wichtig. Kontext? Handtasche? Egal. Das Problem ist nur: Influencerinnen wie sie sind so eine Sache. Firmen haben verstanden, dass das social Web das Werbefernsehen für die jungen Leute ist. Die leicht beeinflussbar sind, gerne Dinge kaufen, um zu sein wie ihre Vorbilder. Firmen, darunter auch Handtaschenproduzenten, haben verstanden, dass da sehr viel Geld zu holen ist. Und Leute wie Cathy Hummels haben verstanden, dass sie für viele junge Mädchen und Frauen als Vorbild fungieren können. Und damit auch für sie sehr viel Geld zu holen ist.

Ich kann nicht in Cathy Hummels‘ Kopf gucken. Keine Ahnung, ob sie einen unbedachten Moment gewählt und sich mit ihrer Handtasche vor die gelbe Wand gestellt, ihr Bein abgewinkelt und ihr Haar in die Luft gehalten hat (oder ob sie gar nicht denkt und die Menschen, die sie beraten, einen Aussetzer hatten) und dann nicht mehr zurückrudern konnte. Ob sie und ihr Management knallhart kalkulieren und ihre Followerschaft so gut kennen, um zu wissen: Das ist denen egal. Und damit ist es uns egal. (Der erste Satz, der mir gerade durch den Kopf schoss – nein, ging: „Hauptsache, der Rubel rollt.“ Auch Sprache bedeutet Verantwortung.)

Vielleicht geht es Cathy Hummels und ihren Fans tatsächlich nur um Fashion, um Körper-, nicht um eine politische Haltung. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber: Vorbilder prägen. Hätte ich eine Tochter, würde ich solche Bilder mit ihr diskutieren. Wäre Cathy Hummels meine Tochter, erst recht.

6. März 2022

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Es gibt viele Arten des Schweigens. Das nachdenkliche Schweigen. Das hilflose Schweigen. Das beredte Schweigen. Das überwältigte Schweigen. Das solidarische Schweigen. Das kontemplative Schweigen. Vernichtendes Schweigen.

Schweigen, so es denn bewusst gewählt ist und nicht aus einer situativen Unfähigkeit heraus entsteht, kann die eleganteste Form der Reaktion sein. Aber auch die aggressivste. Im Prinzip lässt sich jedes Gefühl mithilfe von Schweigen ausdrücken – vorausgesetzt, wir unterstützen es mimisch, körpersprachlich.

Und da sind wir dann auch schon beim Problem: Die sozialen Medien sind fürs elegante Schweigen nicht gemacht. Lassen wir die Algorithmen mal beiseite, die das Brüllen mehr lieben als alles andere – so weit müssen wir gar nicht gehen. Wer sich zu einem Thema nicht äußert, wer auf eine direkte Aktion nicht reagiert, steckt in der Klemme. Denn bis heute haben wir, die wir die neuen Medien gar nicht mehr so neu finden, noch immer keinen eleganten Weg fürs elegante Schweigen dort gefunden. Erinnern wir uns nur an die Losung „Don’t feed the troll“, indem wir einander ermutigten, die Pöbler, den Mob einfach zu ignorieren. Ich denke, wir sind uns einig: Dieses Experiment ist gescheitert. Die Schlauen unter den Brutalen wissen, dass sie den Dummen weismachen können, unser Schweigen als Reaktion auf ihre Beschimpfungen, Unflätigkeiten und zivilisatorischen Entgleisungen wäre der Beleg für unsere Feigheit oder unsere Unfähigkeit, uns zu wehren. Man schaukelt sich also noch weiter hoch. Und die Feigen unter den Dummen fühlen sich ermutigt, mitzumachen – droht ja keine Reaktion außer dem Jubel der Ihren. Der Mob ist mit den Jahren größer geworden, wohl nicht zuletzt deswegen. Nur: Reagiert man, und das dann auch noch emotional, beweist man diesen Leuten die Wirksamkeit ihrer Angriffe. Und auch das feuert sie an. Es ist ein Teufelskreis, im wahrsten Sinne des Wortes. In den den sozialen Medien ist Schweigen keine Reaktion.

Zurück zum eigentlichen Thema, ich schweife ab. Schweigen ist also keine Option, denn entweder wirken wir dadurch passiv und ertappt – oder aber: desinteressiert. Denn obwohl das ja, siehe oben, eigentlich gar nicht geht, Desinteresse qua Schweigen zu äußern, suggerieren ein paar ganz Findige das Gegenteil, wenn es ihnen in die Karten spielt. Um das mal anschaulicher zu machen: Ich bin nun kein Superstar, aber ein paar Follower habe ich schon. Und wie jeder Mensch mit mehr als sagen wir mal 50 Leuten, die ihm folgen, habe ich darunter auch solche, die mich hassen. Nicht mich persönlich, denn niemand, der mich aus Social Media kennt, kennt mich. Aber sie hassen das, wofür ich ihrer Ansicht nach stehe. Und freuen sich über jede Gelegenheit, mir einen mizugeben. Ereignet sich nun beispielsweise ein Amoklauf, ein antisemitischer Anschlag, ein islamistischer Terrorakt oder eine andere Katastrophe, über die alle sprechen, schreiben und bestürzt sind, und ich schreibe in den sozialen Medien nichts dazu, dann taucht früher oder später immer einer auf, der twittert: „Hier, da, seht her! Nicole Diekmann! Nichts hat sie dazu geschieben! Das ist der letzte Beweis: Sie ist Antisemitin/Waffennärrin/Islamhasserin!!!“

Nur: Genauso wenig, wie ich ein Superstar bin, bin ich ein Übermensch. Manchmal fällt mir schlicht und einfach nichts wirklich Treffendes ein, das ich posten möchte. Manchmal bin ich noch nachdenklich und möchte nichts übereilen. Manchmal führe ich vielleicht auch gerade mein analoges Leben und tauche mich da aus über die Geschehnisse. Manchmal arbeite ich und kann nicht twittern/instagrammen (zu diesem Medium aus der Hölle der Eitelkeiten gleich noch mehr). Manchmal beschäftige ich mich gerade mit etwas anderem, auch das soll es geben. Und das finde ich eigentlich auch völlig ok, denn: Der Bundespräsident bin ich ja auch nicht. Kein Staat der Welt wartet darauf, dass ich ihm meine Solidarität und die des gesamten deutschen Volkes erkläre und dass wir allesamt an seiner Seite stehen. Niemand empfindet es als Affront, wenn ich nicht zum Ort des Geschehens reise. Auch Angelina Jolie bin ich nicht (ein paar Jahre lang hätte mir das gefallen, aber wenn Brad Pitt wirklich so viel Gras raucht, wie man liest, dann doch wieder nicht), und auch „Nachrichtenagentur“ steht nicht auf meiner Visitenkarte. Was ich aber vor allen anderen Dingen nicht bin: ein Genie.

Es gibt Dinge auf dieser Welt, von denen hab ich gerade mal so viel Ahnung, dass ich darüber maximal auf meinem Balkon mit meiner Freundin Eva reden würde. Nicht zuletzt, weil die immer sehr gut in Themen ist, eine eigene, mich bereichende Sicht auf die Dinge hat und im Ernstfall nicht davor zurückscheut, mir zu sagen, dass ich großen Stuss erzähle. Eva will mir was. Aber lediglich was erklären, wenn nötig. Oder ausreden. (Oder mir auch zustimmen, ich erzähle manchmal auch richtige Dinge und habe hier und da sogar Ahnung.) Wie man das im freundlichen Umfeld halt so tut. Die sozialen Medien sind aber kein freundliches Umfeld, und deshalb halte ich es da so, wie die Omma immer sagte: „Schweigen ist Gold“. Lieber lasse ich Leute darüber spekulieren, ich könnte ein bisschen doof sein, als den Beweis in einer konkreten Frage für alle nachlesbar tatsächlich mal zu liefern. Ich halte es für hochintelligent, zu wissen, worüber man zu wenig weiß.

Jetzt gibt es aber leider Leute, die können es einfach nicht. Die sind nicht in der Lage, EINMAL NICHTS ZU POSTEN, auch auf die Gefahr hin, nicht dabei zu sein. Es ist Digital-Fomo, Fear of Missing Out. Den Buzz nicht mit am Laufen zu halten, die Chance auf ein paar Likes, Follower und 15 Sekunden Timeline-Ruhm verstreichen zu lassen – manche scheint es unerträglich zu peinigen. Atomphysik, Virologie, Ballistik, internationaler Zahlungsverkehr, Energiesicherheit, um nur die großen und komplexen Themenblöcke der vergangeen Monate zu nennen – es gibt Menschen, die wissen alles. Und zwar über all diese Themen. Diese Menschen folgen – bestimmt unbewusst – dem Diktat des reflexhaften, aber oft unreflektierten Kommentierens von A L L E M. Daraus entsteht eine Mischung aus Presseclub, Stammtisch und „Doppelpass“. Es verschieben sich die Grenzen. Kein Eis des Halbwissens scheint mehr zu brüchig, und sei es auch oblatendünn.

(Und wenn Leute nichts, aber auch gar nichts Inhaltliches beizusteuern wissen, um noch einmal auf Instagram zurückzukommen, schauen sie ausdrucksstark in die Ferne, fotografieren sich dabei, wählen den Schwarz-Weiß-Filter, und schreiben ein paar Sätze darüber, was das Leid anderer Menschen mit ihnen macht. Kein Grad der Egozentrik scheint mehr zu pietätlos.)

Das nervt, das nervt mich persönlich, aber das soll Sie nicht zu sehr bekümmern, ich komme klar. Das Problem ist weit größer. „Wir müssen uns bewusst sein, dass wir gerade mit jedem Post, der über den hippiehaften Wunsch nach Frieden hinausgeht, aktiv in einen Krieg eingreifen. Wenn die EU ernsthaft diskutiert, ein Land aufzunehmen, dass sich im Krieg befindet und auf absehbare Zeit die Bedingungen nicht erfüllen können wird, dann ist das eine Eskalation, die digital mitbefeuert wurde“, schreibt Julia Werner in der Süddeutschen in einem sehr lesenswerten Essay über unser aller Verantwortung. Ich twitterte den Text – der sich hinter einer Bezahlschranke befindet. Prompt meldete sich ein Follower mit Kritik, die erkennen ließ, dass er den Text nicht gelesen hatte. Meinen Hinweis darauf, dass doch erstmal zu tun, konterte er mit „Paywall“. Tja. Bevor man gar nicht kommentiert, kommentiert man eben lieber etwas, das man nicht kennt. Lieber mal die Kresse halten? Viel zu riskant.

5. März 2022

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Worauf bezieht sich der große Dank, frug ich mich beim Lesen. Ist es einer im Voraus an alle, die jetzt bitte keine Sachspenden mehr bringen? Oder ist es ein Dankeschön an alle, die schon so viel gebracht haben – nein, ich präzisiere: zu viel?

Erstmal, und das schreibe ich als leidenschaftliche Anwenderin des „Die Welt nicht zu sehr verkopfen“-Lebensmodells, ist es ja großartig, dass so viel da ist, dass es eines Stopp-Tweets bedarf. Klar, es zeigt auch: Unsere Keller sind voll. Überfluss. Bequemlichkeit hat uns die Sachen bisher zu Hause behalten lassen. Besser dort lagern und über den vollen Speicher stöhnen, als den beschwerlichen Weg zum Container antreten (den man vielleicht auch erstmal recherchieren muss). Lieber Abstellkammer-Tetris spielen in der Hoffnung, die Schwerkraft noch eine Kleidergrößen-Saison lang auszutricksen, als den Second-Hand-Shop mit dem Gefühl zu verlassen, über den Tisch gezogen worden zu sein. Vorzugsweise die Dinge dem Motten- oder (Berliner wissen, wovon ich spreche) dem Grundwasser-Risiko aussetzen, als sich nervige Verhandlungen beim Kleiderkreisel wegen abgeplatzter Farbe am dritten Druckknopf von unten am Babybody zu geben. Plötzlich, wenn die Not groß ist, kann das Zeug weg.

Auch bei uns hierzulande ist die Not groß. Ich beobachte in den vergangenen Tagen dreierlei Not bei denen, mit denen ich drüber spreche, und bei mir natürlich auch. (Drüber sprechen ist gerade default-Einstellung. Sprechen wir nicht drüber, bitten wir einander vorher darum: „Wollen wir mal über was anderes reden?“)

Da ist zum einen das reine Mitgefühl. Beim Anblick von Fernsehbildern von erschrockenen ukrainischen Kindern etwa, die das Hier und Jetzt schon ängstigt und die zu ihrem Glück keine Ahnung von der Tragweite des Wahnsinns haben, der um sie herum tobt und sie bedroht. Sie sind zu klein, um das Damoklesschwert über sich zu sehen. Es ist herzzerreißend.

Da ist zum zweiten die Not, dass wir mit Ohnmacht nicht umgehen können. Masketragen und Impfen helfen nicht gegen das, was Putin reitet. Und, um in der Analogie zu bleiben: Die Drostens und Brinkmanns in dieser zusätzlichen Krise können uns nicht sagen, wie wir uns schützen können. Die ehemaligen Generäle, die jetzt in den Sendungen sitzen, die Militärexperten, die haben keine Modellierungen, die zwar unangenehme Kontaktbeschränkungen oder Quarantänebestimmungen nach sich ziehen – aber damit eben auch die Möglichkeit aufzeigen, rauszukommen aus der Lage und vor allen Dingen: uns Handlungsmacht verleihen. Nichts außer der Impfung hat mich so erleichtert wie die Studie Ende vergangenen Jahres über die Wirksamkeit von FFP2-Masken. Mich kann ich ja gut dazu bringen, sie zu tragen.

Die uns nun neuen Experten haben leider nichts dergleichen im Angebot. Sie sagen: Die Bundeswehr hat im Grunde genommen nichts Ernsthaftes, das sie irgendjemandem entgegensetzen könnte. Wir können nicht mal ein paar warme Unterbuchsen für Soldaten an der NATO-Osflanke schicken und uns dadurch gleichzeitig auch wärmen: an dem Gefühl, ein starkes, gut funktionierendes System noch ein kleines bisschen besser gemacht zu haben mithilfe eines symbolischen Aktes. So wie ich meinem fast 80-jährigen Vater etwas zum Geburtstag schenke, weil ich ihm etwas schenken möchte. Nicht, weil er das Geschenk konkret braucht. Er hat alles, sagt er, und ich finde, das stimmt. Stichwort Überfluss. (Ich gönne es ihm von Herzen, nicht, dass das hier falsch rüberkommt.)

Drittens, als direkte Folge aus eins und zwei, wollen wir helfen. Aus Empathie, siehe Punkt eins, und aus dem Bedürfnis heraus, uns selbst zu ermächtigen. Also geben wir. Oder fahren mit dem Auto an die Grenze. Stellen uns an den Hauptbahnhof und begrüßen die Geflohenen. Registrieren uns als Obdach-Geber.

Was wir darüber nicht vergessen sollten: Unsere Not ist zumindest in Teilen konfigurierbar. Und die Bedürfnisse derer, denen wir helfen wollen, ändern sich. Diese Auflistung zeigt beeindruckend, wie viel Fachwissen auch hinter dem Thema „Hilfe“ steckt. Vielleicht sind diejenigen, die unsere in Hilfsbereitsschaft kanalisierte Hilflosigkeit wirklich sinnvoll koordinieren können, die neuen Drostens und Brinkmanns.

4. März 2022

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Eine Sommernacht in Berlin. Ich sitze draußen auf meinem Balkon, ein Glas Weißwein in der Hand, die nackten Füße auf dem Geländer. Es ist still, die meisten schlafen schon – da trottet plötzlich unten ein Fuchs über die Straße, Richtung Park. Ganz selbstverständlich. Als käme er aus dem Büro und wäre jetzt auf dem Heimweg, wie an jedem Werktag. Natürlich um diese späte Zeit, ohne gefährliche Autos, ohne störende Menschen.
Neben mir sitzt ein Freund, aufmerksam betrachten wir das Tier. Aufmerksam, aber nicht staunend. Füchse in der Stadt sind hier keine Seltenheit. Wir sind beide leise, um den Feierabend-Fuchs nicht zu stören. Da hören wir es: Ein Käuzchen ruft. Diese Szene ist so idyllisch; eine warme Schwarzwaldklinik-Kitsch-Glücksgefühlsblase steigt in mir auf. Schnell platzt sie, denn aus dem Mann neben mit platzt heraus: „Sach ma, sind wir hier in Mitte oder aufm Land?“

Tatsächlich machen die Käuzchen uns hier ein bisschen zur Provinz, denn sie sind in meinem Kiez jedes Frühjahr großes Thema. Ich hörte Leute im Wartezimmer meiner Hausärztin darüber reden, sich im im Späti (so heißen hier die Kioske) nebenan drüber freuen, einander davon beim Weinhändler um die Ecke erzählen. Wir lieben die Käuze. Wie auch nicht?! Ein Kauz in Hörweite ist zirka so beruhigend wie das Wissen um das stets gütige Gemüt und fundierte medizinische Fachwissen des Professor Brinkmann. Hören Sie selbst:

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„Meine Idee für meinen Blogeintrag heute: schöne Meldungen. Gut oder völliger Irrsinn?“, habe ich einer Freundin geschrieben. Einerseits, andererseits. Ich hab mich, offensichtlich, für andererseits entschieden. Heute also: Schönes. Alles außer Krieg. Zum Aufladen. So wie das Käuzchen. Oder so wie das hier.

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Ich bin kein Basketballfan und werde das auch wohl nicht mehr werden, aber das ist auch gar nicht nötig, um die sechsteilige Netflix-Doku „The Last Dance“ bingen zu wollen. Ich präsentierte sie neulich einer befreundeten Handball-affinen Familie, ignorierte stoisch die Bemerkungen meiner Freundin, guckte das Meisterwerk mit ihrem 12-jährigen Sohn, reiste wieder ab – und erfuhr anschließend, dass ALLE sie danach angeschaut hatten.

Zum Schluss noch dies. Es geht nicht ganz ohne Andeutung. Es ist zu einschneidend.

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3. März 2022

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Die Nachbarin, die Urlaub genommen hat, um sich um Flüchtlinge zu kümmern.
Die Kollegin, die für einen Ernstfall die Reisepässe der Familie überprüft hat.
Der Freund, der eine WhatsApp-Gruppe gegründet hat, die er laufend mit Infos versorgt, welche Hilfsorganisation mit welcher Adresse hier in Berlin gerade welche Güter dringend braucht.
Die Bekannte, deren Babysitterin ein Kurbelradio gekauft hat.
Der Vater der Nachbarin, der mit einem Kanister Diesel angereist ist aus Angst, sonst nicht mehr wegzukommen.
Der Fünfjährige, der sich von sich aus von Spielzeug getrennt hat. „Für die armen Kinder“.
Die Friseurin, die sagt: „Ich kann nach diesen letzten zwei Jahren diese Nachrichten nicht auch noch konsumieren. Ich bin wund.“
Der gerade erst eröffnete kleine Hipster-Projektraum mit Schaufenster um die Ecke, gedacht für Ausstellungen, Workshops, Lesungen, in dem die drei jungen Gründer vorhin inmitten von bis oben hin gepackten Spendentaschen saßen.
Der Hamsterkauf am Wochenende, dominiert von Konserven, Müsli und H-Milch.
Die polnische Putzfrau von nebenan, deren Sohn jetzt zwischen Berlin und der Heimat seiner Eltern pendelt, wo er Geflüchtete aus der Ukraine mit Windeln, warmen Hosen und Tampons versorgt.
Der Verwandte, der viel Geld von der Bank abgehoben und den Bargeldvorrat bei sich zu Hause aufgestockt hat.
Die Radiomoderatorin, die die Ankunftszeiten von Zügen aus Polen mit Geflohenen nennt und dazu ermuntert, zum Hauptbahnhof zu fahren und sich ihrer anzunehmen.
Der Gedanke: „Gut, dass Mama das nicht mehr erleben muss.“
Das ehemalige chilenische Aupair einer Freundin, das angerufen und zu ihr gesagt hat: „Wenn es gefährlich wird, könnt ihr alle fünf kommen.“
Die vielen Freunde, die sich hier schon eingetragen haben.

Menschen ringen mit dem Glauben in die Menschheit. Menschen liefern Gründe für den Glauben in die Menschheit.

2. März 2022

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„Die beiden wichtigsten Dinge, die eine ukrainische Frau wissen muss, sind: Wie man Borschtsch kocht und Molotow-Cocktails herstellt.“ Sagt Kateryna Yurko. Bis vor wenigen Tagen besaß sie ein Geschäft für Autoteile in Kiew. Dann brach der Krieg aus. Kateryna Yokus Laden wurde bei den Angriffen zerstört. Jetzt kocht sie Borschtsch für die Soldaten. Und – genau: versorgt sie außerdem mit selbstgebauten Molotow-Cocktails. Eine Mutter von drei Kindern verwandelt sich in eine Waffenproduzentin: Tausende der Benzinbomben, sagt sie, haben sie und ihre Freunde in den letzten Tagen gebastelt.

Auch eine ukrainische Brauerei namens „Prawda“ in Lwiw ist nicht mehr das, was sie einmal war. Vor einer Woche füllten sie dort noch Bier in die Flaschen. Jetzt auch hier: Molotow-Cocktails. Böller statt Bier. (Um Micky Beisenherz zu zitieren: „Der Teufel braut Prawda.“) „Weil wir es können“, sagen die Ex-Brauer und Nun-Bauer auf der Frage nach dem Warum. Auf den zum gefährlichen Geschoss mutierten Flaschen klebt eine Karikatur von Putin.

Verwandlungen inmitten des Krieges, vor Ort. Das Geschehen vor Augen, in den Ohren, im Nacken.

Wir hier, besorgt zwar, aber umhüllt von Frieden, reden gerade ebenfalls viel vom Wandel. Haben wir schon in den vergangenen beiden Jahren getan. Nebenwirkungen der Pandemie waren nicht nur unser bizarr selbstverständlicher Gebrauch von Wörtern wie „Inzidenz“, „Hospitalisierungsindex“ und „Spike-Protein“, sondern auch das sich stetige Aufdrängen neuer Fragen. Unter anderem dieser: Was wird bleiben?

Je nach Temperament, Tageslaune und/oder Wellenhöhe antworteten wir mal mehr, mal weniger optimistisch: die Narben auf Seelen, verursacht durch Isolation. Die neue Genügsamkeit (Hobbys, Familie, Netflix). Die Brüche in Freundschaften durch zutage getretene Unterschiede in der Definition von Verantwortung und/oder Solidarität. Das Wissen um die eigene Krisenresilienz. Der Backlash für uns Frauen.

Ohrenbetäubend hineingekracht in diese doch auch so schon anstrengende und noch gar nicht wirklich begonnene Findungsphase sind vor gut einer Woche noch ganz andere dringende Gewissheiten mit sich anschließenden Fragen. Wieder Fragen, wieder so viele Fragen, und wieder so elementare. Für sich allein genommen schon so gigantische Themen wie „neue Rolle in der Welt“, „neue Bundeswehr“, „neues Selbstverständnis“ und andere, darunter liegende, die erst nach und nach zutage treten werden – die sind plötzlich da und gehen wohl auch nicht mehr weg.

Werden wir ein neues Land? Sind wir durch die #aktuellesituation und #PutinRusslandUSAChina längst zu einem geworden und haben es jetzt erst bemerkt? Ist unser Laden, überspitzt gefragt, schon lange kaputt, und wir müssen jetzt zügig umdenken, wollen wir nicht unter die Räder kommen? Wie schmal ist der Mentalitäts-Grat zwischen Borschtsch-Kochen und Bombenbauen?



1. März 2022

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Wer schießt uns allen heute dazu als Erstes in den Sinn? Ja. Genau.
Hoffen wir das Beste.
(In Gedanken bei dem Sohn eines Freundes, der seinen Papa vorhin beim Zubettgehen nach der allabendlichen „Logo“-Sendung bat, bei ihm zu bleiben. Weil er Angst hat vor Atomwaffen.)

In den vergangenen Tagen frage ich meine Freundinnen und Freunde nicht mehr nach der Begrüßung am Telefon, ob sie noch positiv sind. Corona ist so unglaublich schnell in den Hintergrund gerückt. Ein Freund sagte heute: „Da dachten wir jetzt die ganze Zeit, die Pandemie würde das Thema dieser Generation. Aber jetzt hat sie mit dem 24. Februar ihren eigenen 11. September.“

Nein, ich frage meine Liebsten jetzt als Erstes, ob sie Angst haben.

Wir tauschen Bewältigungsstrategien gegen die Ohnmacht aus: viel drüber reden. Wenig drüber reden. Sich eine Stunde am Abend ganz bewusst mit etwas völlig anderem beschäftigen. (Ich habe eine unfassbar kitschige Serie geguckt, „Süße Magnolien“, die ich in normalen Zeiten gar nicht ausgehalten hätte.) Große Mengen einkaufen. Den Kleiderschrank ausmisten, um zu spenden für diejenigen, die schon da sind und noch kommen werden. Viel Social Media-Konsum. Wenig Social Media-Konsum. Beten. So viel drüber lesen, wie nur geht, um analytisch an die Sache rangehen zu können – in der Hoffnung, einen anscheinend irrational Handelnden rational durchschauen und somit vorhersagen zu können.

Es sind Gespräche ohne Lösungen, ohne Happy End, ohne Themenwechsel. Es sind Vergewisserungen. Es sind Beruhigungen, die man nicht ausspricht, weil eben der Zweifel bleibt. Das Irrationale. Das Idiotische. Die anderen versucht man gar nicht zu beruhigen, weil es angesichts der Monstrosität so anmaßend wäre. Wir beruhigen uns selbst, indem wir uns als nicht allein wahrnehmen. Und als nicht einsam.

Und all das ist nichts verglichen mit dem, was die Menschen nicht weit von uns entfernt gerade erleben.