12. März 2022

12. März 2022

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Sehr grob zusammengefasst, ist die Lage unverändert. Putins Soldaten rücken weiter vor, kämpfen, töten. Die Ukrainer wehren sich, so gut es geht. Besser als zu Beginn dieses Wahnsinns von aller Welt gedacht. Ihr Präsident Selenskij ist weiterhin in aller Munde. Sein heldenhafter Kampf für das vergleichsweise kleine Land, das er regiert und das Opfer eines Angriffskrieges einer Weltmacht wird. Täter/Oper – die Rollen sind hier ausnahmsweise mal so klar verteilt, wie wir uns alle das ja im Grunde unserer Herzen für alles in diesem anstrengenden Leben wünschen: Putin/Ukraine. Dasselbe unsere archaischen Bedürfnisse erfüllende schwarz-weiß-Schema geht in der Rollenverteilung Putin/Selenskij voll auf: Schurke/Held.

Balsam für unsere geschundenen Seelen und überstrapazierte Differenzierungsfähigkeit, auch wenn das zynisch klingt. Seit 2014, der „Flüchtlingskrise“, dem Aufkommen von Fridays for Future und dann auch noch Corona, streiten wir. Verlieren Vertrauen in die Politik, verlieren Freunde, registrieren dezimierte Geduldsreserven. Und das ist noch die luxuriöse Variante. Ich habe noch meinen Job, meine Gesundheit, meine Zuversicht. Niemand aus meinem nahen Umfeld hat weitergehende Folgen nach einer Infektion davontragen müssen, Stand jetzt. Glück gehabt, pures Glück, nichts anderes. (Und Impfungen und Masken.)

Jetzt müssen wir uns Gottseidank nicht fragen, wo wir die Grenze ziehen müssen. Wann den Mund nicht mehr halten, wenn uns Nahestehende den Quatsch über angeblich horrend hohe Gelder für Flüchtlinge übernehmen. Ob wir der Freundin sagen müssen, wie egoistisch wir ihr Brechen der Quarantäne finden, weil sie das „einfach mal brauchte“. Uns dazu zu äußern, würde anstrengende und unsere Beziehungen mitunter strapazierende Debatten nach sich ziehen. Den Mund zu halten, ist aber auch nicht einfach. Dieser Stress kommt zum alltäglichen, nicht unerheblichen – Angst um die Gesundheit, die Arbeitsstelle, nerviges Home Schooling – noch hinzu.


Und nun dieser Krieg. Bilder von einer zerbombten Geburtsklinik, von Toten, von weinenden oder fast noch schlimmer: nicht weinenden, weil bis ins Mark schockierten, Kindern. Das ist nicht einfach auszuhalten. Wenigstens eines bleibt uns da erspart: differenzieren zu müssen. Die Grenze ist ja für alle sichtbar: der böse, der gut. 

Die Bilder vom zweifellos unheimlich mutigen Selenskij balancieren mich aus, ich merke das jedes Mal. So undenkbar skrupellos Putin agiert, so unvorstellbar selbstlos sehen wir – dank Social Media nahezu in Echtzeit – Selenskij. Der eine mit diesem maskenhaften Gesicht (keine Wertung, Krankheitsgerüchte machen die Runde), der andere mit Dreitagebart. Der eine allein am absurden Tisch, bei dessen Anfertigung anscheinend „DISTANZ“ ganz oben auf der Anforderungsliste stand, in einem sterilen Raum. Der andere dicht an dicht am Tisch mit Mitkämpfern, einfache Leute-Essen vor sich. Das Wissen, dass Menschen zu allem fähig sind – vom einen wird es aufs Erschreckendste bedient, vom anderen aufs denkbar Beste.

Der eine macht uns Angst, der andere macht uns Hoffnung.

Wir wollen hoffen. Wir sind Menschen, wir wollen leben. Ohne Hoffnung ist das nix. Also wollen wir Selenskij. Wir wollen, dass Übermenschliches möglich ist. Dass am Ende das Gute siegt. Dann wird vielleicht alles gut, auch das, was uns vor dem Krieg so aufgerieben hat. Vielleicht geht Corona dann auch endlich wieder weg. Können wir wieder so leben, wie wir wollen. Unsere Eltern und Großeltern den Pflegestationen, unsere Kinder.

So fundamental unser Leben berührend und damit hitzig waren die großen Themen der vergangenen Jahre, dass einige nicht hinnehmen wollen oder können, wenn jemand – hier konkret: Sabine Rennefanz – in der aktuellen großen Zweifel sät an ihrer Holzschnittartigkeit. Oder auch nur zu ergründen versucht, warum wir einen Menschen verherrlichen, der ein Mensch ist. Ganz offensichtlich ein sehr mutiger mit Sinn für Verantwortung, Solidarität, Nächstenliebe. Aber eben ein Mensch. Bei dem man sich fragen muss, wie er eigentlich die in ihn gesetzten Hoffnungen und Projektionen erfüllen will, sollte er überleben. Aber Fragezeichen müssen von Einigen umgehend ausgemerzt werden. Die oben zitierte Autorin wird seit gestern von Einigen als nichts Geringeres als Putin-Propagandistin bezeichnet.

Und, fast noch Besorgnis erregender, je länger man drüber nachdenkt: Bei Einwänden, dass dies sehr übers Ziel hinausschießt, brüsten sich Leute damit, wie wenig Mitleid sie empfinden. Dasselbe passiert mit dem auf Twitter verbreiteten Video einer russischen Influencerin: Die weint, weil Putin Instagram in ihrem Land abschalten ließ. Instagram sei ihr Leben, leidet die Frau vor der Kamera, die sie extra zu diesem Zweck laufen lässt.

Nun gehöre ich weiß Gott nicht zu den Fans dieser Eitelkeits-Egozentrik-Peinlichkeit, die Insta in bedeutenden Teilen darstellt. (Sehen Sie etwa hier oder auch hier.) Aber die Lust, mit der dieser Clip spöttisch geteilt und kommentiert wird, sagt mehr über uns als über die Frau. Deshalb auch kein Link an dieser Stelle.

Sicherlich und glücklicherweise hat die Menschheit schon Intelligenteres und Emphatischeres zu sehen bekommen als dieses Dokument der selbstvergessenen Zeitgeschichte. Sogar bei Instagram. Aber welchen Nutzen bringt die Verbreitung dieses Videos? Die Antwort lautet: Triebabfuhr. Es ist ein Ventil, genauso wie die überzogenen (und damit meine ich ausdrücklich nicht die konstruktiv-kritischen) Reaktionen auf den Text von Sabine Rennefanz. Es brodelt so sehr in uns, das muss irgendwo hin.

Unsere Hilflosigkeit ob unseres Mitleids mit dem ukrainischen Volk kompensieren manche von uns mit Gnadenlosigkeit. Putins Krieg zeigt, wie verrückt wir Menschen sind. In vielen Facetten.