3. April 2022

3. April 2022

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Diesen sehr langen und sehr beeindruckenden Thread, in dem der Verfasser sich sehr selbstkritisch reflektiert, las ich heute Morgen, inmitten sich “streitender“ („Du bist doof!“ – „Nein, Du! Guck hier, ich poste einen Clown, das macht mich noch glaubwürdiger!“) Erwachsener. Und nickte. Und nickte. Und nickte.

Vielleicht, wahrscheinlich sogar, ist es selektive Wahrnehmung. Das aber ist: egal. Jedenfalls laufen mir in den letzten Tagen immer wieder Situationen über den Weg, die einen scharfen Kontrast bilden zu diesem scharfen Gegeneinander, weil man ja nicht miteinander einer Meinung ist beziehungsweise 2015 mal nicht war und seitdem den anderen der anderen Seite zurechnet und die Gereiztheit ist ja eben nicht entschärft worden so ganz allgemein, also findet man den immer noch doof und HA!, da ist der Beweis, da stehen ja drei Pünktchen am Ende seines Tweets, besserwisserisch-vielsagende Pünktchen, und, ja, Momentchen mal, wer kommt mir denn da jetzt in die Quere und versucht, die Situation zu beruhigen? Was glaubt der denn, wer er ist, der hatte doch kürzlich den Tweet von Dingens gelikt, dem Blödmann, das hab ich genau gesehen, mal nachschauen. Ah ja, rückgängig gemacht, nicht nur reaktionär, sondern auch noch feige, na warte…

Der- oder dienenige (jetzt bitte nicht gleich ausrasten, ich nutze ja schon den Glottisschlag nicht mehr, dazu gleich mehr), der oder die noch nie gereizter in den sozialen Medien oder nach deren Benutzung auch in der reellen Welt aufgetreten ist, werfe sich selbst den ersten Stein an den Betonkopf. Nie war es einfacher, sich auf einen Schlag bei vielen Menschen auf einmal zu entschuldigen. Und nie schien es schwieriger.

Wir erleben Überforderung durch Entgrenzung. Nie kam man einfacher an Informationen wie heute durch das World Wide Web. Nie war aber auch deshalb Kompetenz, diese Informationen einzuordnen, zu analysieren, sie schlicht und einfach zu verstehen, so wichtig. Oder noch einen Schritt zurück: Nie zuvor war die schiere Menge dermaßen riesig, die man überhaupt erst mal überblicken musste, um von ihr nicht überwältigt zu werden und nicht abgehängt bei der Bewältigung von Themen mit kolossaler Tragweite, die unseren Alltag nicht nur berührten, sondern ja auch zum Teil bestimm(t)en.

Es ist so viel, dass es zu viel ist. Was in der Theorie gleißend hell erscheint als ein Angebot, aus dem man wählen kann und das einen klüger macht, entpuppt sich in der Praxis als Strom, in dem man zu ertrinken droht. Also sucht man sich Lotsen, vertraut ihnen, man folgt ihnen – und ihrer Richtung entgegengesetzte Informationen wehrt man lieber ab, aus Angst, wieder vom Kurs abzukommen, die Orientierung zu verlieren, unterzugehen. Denn wo soll man die Grenze setzen, damit es nicht gleich wieder zu viel wird?

So erkläre zumindest ich mir zum Beispiel die oft massive Enttäuschung ob der Wissenschaft in der Pandemie, die – naturgemäß – ihre Ansichten stets korrigiert, anpasst, sich selbst auch widerspricht. Die Wut, die das bei nicht Wenigen entfacht, und die sich als Häme, Abwertung, Morddrohungen, wir kennen das alles inzwischen zur Genüge und winken beinahe schon müde ab, äußern. Für die Formen, die der Hass annehmen kann, sind wir ja inzwischen alle Experten geworden. Mir schrieb mal ein Mann, er wünsche mir ein jahrelanges Wachkoma. Ich solle nicht sterben, sondern mich quälen. Meine Familie sollte zwischen Hoffen und Bangen leiden. Der Anlass für diese Zuschrift: Ich hatte im Fernsehen beim Gendern den Glottisschlag benutzt.

Das tue ich inzwischen nicht mehr. Seit fast einem Jahr, genau genommen. Und trotzdem schreiben mir Leute zuverlässig immer wieder, egal, welcher Anlass, dass ich damit endlich aufhören solle (Ich formuliere das hier freundlicher, als sie es tun.) Es geht nicht um Inhalte, es geht nicht um Menschen, es geht darum, sich selbst zu verorten und rückzuversichern. Wer gegen jemanden oder etwas ist, hat damit schon ein paar Koordinaten für sich geklärt.

In dieser brennende Wagen-Burg-Stimmung lauert man darauf, dass die andere Seite eine Schwäche preisgibt, die Kehle hinhält. Und was ist defensiver als eine Entschuldigung? Das Einräumen von Fehlern? Das Ausstrecken der Hand? Oft genug erleben wir ja, was dann passiert. Es wird dann erst recht drauf gehauen. Ist ja einfach, und dass es dem anderen weh tut, hat der ja schon indirekt eingeräumt: Wer bedauert, hat den Panzer abgelegt. Und ist verletzbar.

Entwaffnende Ehrlichkeit – das ist nur die halbe Wahrheit. Manche rüsten gerade dann erst auf.

Und trotzdem trauen sich Leute so etwas. Der Mann dort oben zum Beispiel. Stand jetzt hat er fast überwiegend positives Feedback bekommen. Ganz ohne Verweis auf die vermeintlich anderen (die “woken“, die verantwortlich sind für die Lage allgemein und in der Welt) kommen zwar nicht alle aus, die ihm antworten. Aber ideal war die Welt ja noch nie.

Sebastian Krumbiegel traut sich das auch. Der von den „Prinzen“. Er war kürzlich zu Gast in der Nilz Bokelberg Erfahrung, im Podcast von Nilz Bokelberg. Dem von Viva. Das Gespräch zwischen den beiden ist voller Freundlichkeit ( wie immer in Nilz’ Podcast, wie wahrscheinlich so gut wie immer in Nilz’ Leben ganz allgemein,) gegenseitigem Interesse, und: voller Ehrlichkeit. Krumbiegel wuchs in der DDR auf und war 23, als die Mauer fiel. An einer Stelle sagt er, er würde gerne von sich behaupten können, „den ganzen Scheiß nicht mitgemacht“ zu haben.

Das zuzugeben, die möglichen Reaktionen auszuhalten – das muss man auch erst mal können. Nie schien es schwieriger. Und selten schien es nötiger.