29. April 2022
Harry und Sally, die Leute, um die es in Klaus Lages „1000 und 1 Nacht“ geht, Dalli und Ethelbert in den „Mädels vom Immenhof“ – es gibt sie nicht selten, die späte Liebe. Tiefe, schwere, wahre Gefühle zwischen zwei Menschen, die sich schon lange kennen und erst auf den zweiten Blick erkennen, dass sie das Allergrößte füreinander sind und sich mit niemandem wohler fühlen als mit dem jeweils anderen.
Ich habe so etwas noch nie erlebt. Bis jetzt. Gestern fiel es mir auf: Berlin und ich, nach 17 Jahren, nach zirka 8749.74628330 Blicken – it‘s a match. Ich schlenderte durch mein Viertel, traf eine gute Bekannte, die gerade zur Freundin avanciert, wir unterhielten uns kurz und verabredeten uns für Samstagabend. Ich schlenderte weiter, traf einen entfernten Kollegen, wir aßen ein Eis. Heute Morgen traf ich auf dem Weg zum Bäcker eine alte Freundin, wir freuten uns und plauschten miteinander. Ich kam mir vor wie die Bürgermeisterin. Heute Abend, aufmerksame Leser und Leserinnen wissen es, gehe ich auf den Bundespresseball. Und mit jedem Tag wird die Zahl derer, die ich kenne und dort treffen werde, mehr. Nach 17 Jahren kennt man halt ein, zwei Leute. Das Regierungsviertel ist ja zudem auch nicht riesig, die Bundespressekonferenz schon mal gar nicht.
Hinzu kommt: In Berlin ist ja so gut wie jeder Kiez eine Entscheidung für einen Lebenswandel. Zumindest die, für die man sich aktiv entscheiden kann. Die, in die man ziehen muss, weil das Geld einen verdrängt, werden mehr, wir haben hier ja ein akutes Mietsteigerungsproblem. Ich weiß, ich weiß, in Hamburg (wohnte ich schon) und München (wohnte ich auch schon) lacht man darüber. Hier nicht. Viele Menschen zogen einst her wegen der günstigen Mieten, und diese Stadt hat einen Wandel hinter sich, wie ihn Hamburger und Münchener wohl schwerlich durchstehen würden. Die Fallhöhe ist also eine andere.
Mein Kiez ist folgerichtig eine bewusste Entscheidung, eine sehr typische, wie sie mittelalte Frauen treffen, die was mit Medien machen. Ich wohne also schon lange im Kiez, wenn auch nicht in dieser Wohnung. Dementsprechend gut bin ich hier vernetzt. Es ist kaum möglich, zum Rewe, zum Lidl, in den Biosupermarkt, zur Eisdiele, in den Buchladen oder Pizza essen zu gehen, ohne zufällig jemand mir Bekanntem über den Weg zu laufen. Und das ist genau das, was ich sehr lange vermisst habe. In Gütersloh muss man sich schon aktiv verstecken, um nicht bekannt zu sein wie ein bunter Hund. Meine Eltern sind dort beide geboren und aufgewachsen, meine Vater ist ein Vereinsmeier. Ich bin dort in den Kindergarten gegangen, zum Kinderturnen, zum Kinderschwimmen. Zur Grundschule, aufs Gymnasium. Auf jede Party, die mit dem Fahrrad erreichbar war. Ich war immer sehr kommunikativ, also: Ich kannte alle, die auch alle kannten.
Manche nervt das und die damit Hand in Hand gehende soziale Kontrolle. Ich brauche das, ich liebe das sehr. Für mich gehört das zum Zuhause-Gefühl dazu. Die ersten Jahre hier in Berlin ging es mir wie an der Uni: Ich war entsetzt darüber, dass unterzugehen, ohne dass jemand etwas davon merkt, eine realistische Option war.
Nach 17 Jahren ist das nicht mehr so; man muss auch glaube ich schon eine Menge verkehrt machen, um nicht doch irgendwann anzukommen. Im Kiez. Ich erinnere mich, wie ein Kommilitone im Grundstudium in Münster mal sagte: „Wer in die Großstadt zieht, verliert seine Seele.“ Ich gebe ihm Recht, nach 17 Jahren Berlin, einem Jahr München und vier Jahren Hamburg. Aber mein Kiez, der rettet mich. Ich liebe meine Stadt. Bleib ich wohl hier.