27. April 2022

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27. April 2022

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Als ich heute Morgen aus dem Haus trat, bot sich mir ein ungewohntes Bild: Leere. Die Fahrräder und Autos der Nachbarn, und zwar so gut wie aller Nachbarn – weg. Alle im Büro. Wie früher, vor Corona. Ich weiß nicht, wann das passiert ist. Dinge geschehen ja allermeistens nur in unserer Phantasie Knall auf Fall, in der Realität sind es Prozesse, schleichende oft. Ich gehe also nicht davon aus, dass sich alle hier gestern Abend dazu verabredet haben, zurückzukehren an ihre Schreibtische im Nicht-Home-Office. Es wird nach und nach so gekommen sein, und ein paar sitzen wahrscheinlich auch heute daheim. Und ein paar von denen, die heute außerhäusig arbeiten, dafür dann vielleicht wieder morgen.

Der Krieg kam für die allermeisten von uns Knall auf Fall. Heute ist der 64. Tag. Schon vor drei Wochen sagte eine Freundin: „Ich habe heute einen Podcast aufgezeichnet. Am Anfang haben wir auf Spenden für die Ukraine hingewiesen – aber ich hab nicht das Gefühl, dass jemand sich aufregen würde, hätten wir das nicht getan.“ Wir sprechen alle weiter drüber, wir denken alle weiter drüber nach. Viele fürchten sich, viele helfen. Aber die Furcht schleicht sich in den Alltag ein. Der Krieg wird in den Alltag integriert, wir tun das kognitiv und emotional und automatisch.

Gestern Abend kam mein Kleid für den Bundespresseball. Der ist morgen, ich geh hin. Ich freue mich. Nicht so unbedingt, wie ich das in anderen Zeiten getan habe. Aber: Ja, ich freue mich auch. Ich weiß um viele Leute, die dort hin gehen, die ich mag, und ich bin gespannt, wen ich zufällig treffe.

Und ich frage mich: Ist das ok?

Inzwischen steht der Ball unter dem Vorzeichen „Solidarität mit der Ukraine“. Viele haben trotzdem abgesagt, der Bundespräsident, der Kanzler, Ministerinnen und Minister. Diese Woche hat die Bundesregierung beschlossen, nun doch schwere Waffen an die Ukraine abzugeben. 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr werden diskutiert. Deren unbedingte Verteidigungsbereitschaft von vielen Seiten betont wird, „gerade jetzt“. Die Frage, ob Deutschland zur Kriegspartei wird, ob Putin einen Atomkrieg anzetteln könnte – alles in der Luft, alles parallel zum Frühling, parallel dazu, dass draußen gerade alles heller und grüner wird.

Andererseits haben aber auch sehr viele zugesagt; es soll sogar eine Warteliste geben.

Der ukrainische Botschafter wird eine Rede halten, Pressefreiheit ist auch ein Motto des Balls. Aber machen wir uns nichts vor: Wir werden nicht den ganzen Abend lang über den Krieg reden. Also stellt sich die Frage: Kann man tanzen, lachen, feiern angesichts des Krieges? In einer Gegenwart, die dunkel ist, blickt man auf die Weltpolitik und die Weltkarte? Auf die Bedrohungsszenarios, die ja da sind, obwohl wir uns auch an sie schon gewöhnt haben? Darf man das? Warum? Warum nicht?

Wo ist die Grenze? Was geht, was nicht? Das ist ja eine Frage, die sich in körperlich unmittelbarer Form während der Pandemie stellt – nicht stellte, die ist ja auch noch da. Wann fährt man in Urlaub, wohin fährt man in Urlaub, ohne leichtsinnig und/oder unsolidarisch zu sein? Wie lange hält man es aus, die Kinder zu Hause zu unterrichten? Wie stark reizt man die Vorgaben aus? Lädt man wirklich einen weiteren Haushalt ein, erlaubt ist es ja, oder oder setzt man sich vorsichtshalber doch lieber in dicker Jacke zusammen auf eine Parkbank, wegen der Aerosole?

Nun ist ein Ball ja so ziemlich das highest level of Vergügung. Viele Leute, viel Spaß. Und viel Ich-Bezogenheit in Kombination mit Fragen wie: Was ziehe ich an? Wie trage ich die Haare? Welcher Schmuck, welche Schuhe? Vergleichsweise lächerliche Fragen im Vergleich zu: Was packen wir ein für die Flucht? Wie kommen wir hier am schnellsten und sichersten raus? Wie erkläre ich meinem Kind, was passiert ist? Und dass sein Vater hierbleibt, um zu kämpfen? Wie erkläre ich meinem Kind, dass seine Mutter es nicht geschafft hat?

Die gute Antwort für mich persönlich (!) lautet: Es geht ja immer mehr als nur ein Gefühl, als nur ein Aufmerksamkeitsstrang. Gehe ich morgen Abend auf den Ball, beschäftige ich mich vorher mit den oben genannten banalen Fragen, bedeutet das ja nicht automatisch, dass ich meine Gedanken- und Gefühls-Festplatte ausbaue und durch eine ersetze, die aussschließlich mit Amüsement-Daten gespeist werden kann. Ich bekomme auch kein neues Herz implantiert, das ausschließlich um mich und meine hedonistischen Bedürfnisse kreist und keinen Platz mehr birgt für Schicksale, die anders verlaufen als meines.

Übrigens: Für den Einlass morgen Abend ist ein tagesaktueller Corona-Test nötig. Allein dieser Hinweis auf der Einladung hat mir klargemacht: Das wäre ja auch ein „Hingehen? Ein Pro und Kontra“ wert. Die Pandemie schleicht sich aus, zumindest in unseren Köpfen. Auch das ein Prozess.