26. März 2022

26. März 2022

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Dieser Tag fand am Schreibtisch statt. Ein langer, wirklich langer Aufsatz will geschrieben werden. Thema: Hass im Netz. Mein Thema. Ich finde dieses Thema wichtig. Fand ich auch schon, bevor ich selber viel Hass abbekommen habe. Und war während der Buch-Promo irgendwann schnell auf Zinne (nur für mich spürbar, hoffe ich), wenn Leute sagten: „Sie haben ja einen Shitstorm erlebt und ein Buch drüber geschrieben.“ Denn das stimmt ja nicht. Ich habe einen Shitstorm erlebt, das ist richtig. Und den dann zum Anlass genommen, das Thema analytisch auseinanderzuklamüsern. Makro-Ebene. Oder, wie eine unfassbar kluge und ebenso großherzige Freundin (zu was sonst als zu Freundinnen soll man solche tollen Menschen machen?!) vor ein paar Wochen sagte: „Du hast die negative Energie, die dir entgegengeschlagen ist, aufgenommen und in etwas Gutes umgewandelt. In etwas, das anderen hilft, indem es erklärt und Lösungen aufzeigt.“

300 Seiten hat mein Buch. Das war viel Arbeit. Und, kaum jemanden wird es überraschen: Das war nicht immer Polonäse. Seltenst. Die wenigsten Menschen sitzen an einem stilechten, kleinen Holztischchen auf einer Klippe und schreiben ins Pittoreske hinein. Ich zum Beispiel saß am Schreibtisch zu Hause. Ein Fenster, ja doch, das war vorhanden. Wenn ich nicht im Dunklen nach Feierabend schrieb, sondern an den Wochenenden oder an freien Tagen, guckte ich auf ein Stück Himmel, auf einen Baum, auf das Haus gegenüber. Die ersten Wochen saß ich auf einem Esszimmer-Stuhl. Dann guckte mein Rücken noch mal genauer aufs Geburtsdatum. Also holte ich meinen Bürostuhl aus dem Sender – es war sowieso Corona und Home Office-Phase – und versprach meinem Chef, ihn auch wieder zurückzubringen. Hab ich getan. Hätte ich gewusst, wie lange dieser ganze Scheibenkleister dauert (Corona, nicht die Schreiberei), hätte ich einen gekauft. Little did we know.

Anstatt also mit leicht verwehtem Haar, das regelmäßige Rauschen des Meeres und den Geschrei von Möwen in den Ohren, in einem geblümten Sommerkleid in einer Pilcher-Szenerie sitzend zu sinnieren und hin und wieder von einer guten Seele mit Scones und Darjeeling versorgt und von der Muse geküsst zu werden, schrieb ich neben einem IKEA-Regal, je nach innerem Feierlichkeitsfaktor in Jogginghose oder aber alten Jeans, stand zirka alle 30 Minuten auf, um irgendetwas anderes zu tun, und zwang mich dann wieder zurück an den Rechner. Die Wohnung war nie zuvor und nie danach sauberer und ordentlicher. Und ich selten so verschlumpft.

300 Seiten habe ich zu Papier gebracht und dabei gelernt, auszuschmücken. Ist Ihnen noch gar nicht aufgefallen? Na ja, ich hätte das bisher Geschriebene auch so zusammenfassen können: Es war echt viel Arbeit, man muss das wirklich wollen, und zwar, weil man das Thema wichtig findet.

Finde ich nach wie vor; erst gestern kam die Meldung, dass der mutmaßliche Täter von Idar Oberstein sich zuvor in Foren radikalisiert hatte. Der Mann, der keine Maske tragen wollte und mutmaßlich einen anderen, jungen Mann getötet hat, weil der ihn bat, es doch zu tun. Wieder ist ein Mensch auch deshalb gestorben, weil im Netz der Hassmob tobt und sich gegenseitig hochschaukelt.

Das Thema bleibt also leider weiter aktuell. Ich kenne mich aus, ich halte mich auf dem Laufenden, ich bin stets voller Hoffnung, wenigstens ein bisschen dazu beitragen zu können, dass sich endlich etwas ändert. Obendrein schreibe ich gern. Und doch: Ich kann mich nicht mehr hören, ich kann mich schon fast nicht mehr tippen hören. Ich schreibe den Aufsatz, ich verwende dafür neue Studien und Ereignisse, die zur Buchabgabe noch gar nicht stattgefunden haben, ich ziehe auch für mich neue Schlüsse, stelle neue Zusammenhänge her – und trotzdem gehe ich mir selber damit auf die Nerven. Ich fühle mich wie eine Platte mit Sprung.

Und finde, wir Menschen sind in dieser Hinsicht äußerst schlecht konzipiert.

Denn heute Vormittag im Rossmann bemerkte ich denselben Mechanismus an mir. Unser Rossmann hier muss mal ein Schlecker gewesen sein. Ein schlauchförmiger Laden mit denkbar wenig Platz und noch mehr Sortiment. Es ist möglich, mit halbwegs durchschnittlichen Körpermaßen im Gang zu stehen und gleichzeitig mit seiner Vorder- als auch mit der Hinterseite etwas aus den Regalen zu schmeißen. Es ist kein Problem. Mehr noch: Es ist schwierig, es nicht zu tun.

Dieser Laden war heute nicht nur voll mit Ware, sondern auch mit Menschen. Sehr voll, ist ja Samstag. Und nun habe ich ja gerade Corona hinter mir (auch das kann ich mich schon nicht mehr sagen hören oder schreiben sehen), und habe trotz milden Verlaufs ein sehr, sehr gering ausgeprägtes Interesse, es wieder zu bekommen. Und ich gönne auch niemandem, es zu bekommen. Etwa den Kindern im Laden heute Vormittag, die noch keine Maske trugen. So wie quasi dieser eine mittelalte Mann, der eine von diesen Wundermasken ergattert hatte. Von denen, die auch dann keine Viren durchlassen, wenn man sie unter der Nase trägt. Ganz ehrlich: Ich habe 1000 Mal mehr Respekt vor Leuten, die sie dann gar nicht tragen. Dieses feige So-tun-als-ob – das ist doch unwürdig. Entweder ist man selber dumm, oder man hofft auf die Dummheit der anderen. Oder auf deren Feigheit. Oder Trägheit. Oder deren Genervtheit von Plattensprüngen.

Na klar ist es gut, dass wir Menschen abstumpfen. Anders wäre diese Welt nicht zu ertragen, das meine ich ernst. Das fängt mit Liebeskummer an, geht über die Pandemie bis hin zum Krieg. Aber wo Licht, da Schatten: Wir schalten dann eben auch ein Stück weit ab. Verlieren an Empathie, die uns handeln, helfen, etwas ändern lässt.

Ich war wirklich versucht, nichts zu sagen. So weit ist es gekommen. Nicht Angst vor seiner Reaktion hielt mich potenziell zurück; es war mein innerliches Augenrollen, als der Gedanke automatisch in mir hochstieg: „Sag was. Was er macht, ist asozial.“ Ich war genervt von mir. Nicht von ihm. Da ich aber jetzt noch genervter von mir wäre, hätte ich gekniffen, hab ich halt doch den Mund hinter der Maske aufgemacht. Und mich hiermit getröstet: Meistens sind es ja die Lieblingsplatten, die einen Sprung haben. Weil man sie so oft gehört hat. Weil man sie so liebt.