Wenn immer alles schlimm ist.
„Gehen wir nächste Woche essen?“, schreibe ich Freundin J. Ihre Antwort: „Gerne! Ich bin aber deprimiert. Die Weltlage.“
Zum Zeitpunkt unseres WhatsApp-Wechsels befinde ich mich in Österreich. In der Provinz. Im Freibad. Es gibt in diesem Freibad ein Schwimmerbecken, eine Rutsche, ein Babybecken, zwei Starterblocks und zwei Schaukeln. Was es nicht gibt: Schlägereien. Und deshalb auch keine Security. (Andersherum funktioniert diese Kausalkette wohlgemerkt nicht.)
Dieses Freibad, es ist sinnbildlich für meinen Urlaub. Dessen aufregendste Programmpunkte lauten „ständiges Anfahren am Berg“ (Horror) und Fledermäuse, die äußerst dicht an unseren Köpfen vorbeisausen, wenn wir in der Abenddämmerung draußen sitzen und ins Tal schauen (wer am Berg anfährt, wird mit Bergpanorama belohnt, fairer Deal).
Ich möchte kein Aufregend. Wie immer im Urlaub lese ich deswegen nur das Nötigste. Sogar in diesen Zeiten. Gerade in diesen Zeiten. AfD, Digitales (dazu gibts ja nicht viel, aber ich habe Urlaub und rege mich deshalb nicht auf), und alles Aktuelle nur in Newslettern. Einmal am Tag Schlagzeilen. Lasse ich das ganz, fühle ich mich wie im Studium, wenn ich eine Hausarbeit bis quasi Ende der Semesterferien vor mir hergeschoben hatte. Man will ja nicht völlig ahnungslos im Büro aufschlagen. Andererseits finde ich die aktuelle Lage selbst nach 25 Jahren im Nachrichtenjournalismus und davon vier als Kriegs- und Krisenreporterin nicht optimal dazu geeignet, den täglichen Konsum mehrerer Medien mit einem der Erholung zu dienenden Urlaub im Burgenland zu vereinbaren.
Ab Montag geht das so nicht mehr weiter. Dann bin ich wieder im Büro. Und sehe J. zum Mittagessen, die auch Journalistin ist. Und derzeit nicht so gut verdrängen kann wie ich. Oder es einfach auch nicht will. Das weiß ich nicht. Muss ich sie fragen. Darüber haben wir uns nicht mehr ausgetauscht. Sondern noch diese Frage aufgeworfen: Wie sähen unsere Leben wohl aus, hätten wir Jobs, in denen wir uns nicht permanent (!) mit Problemen, Missständen, Streit, Skandalen, Intrigen und ähnlich Abgründigem beschäftigen. Hübscher formuliert: mit den Tälern menschlichen Seins.
Wie wäre es zum Beispiel, dachte ich beim Durchwandern einer Burg vergangene Woche, hätte ich mein Nebenfach Geschichte genutzt, um an einer historischen Stätte zu arbeiten? Ausstellungen mitzukonzipieren etwa. Die erste mögliche Wirkungsstätte, die mir einfiel: das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.
In einem Verlag zu arbeiten, das würde mir auch Spaß machen. Das habe ich während meines Studiums schon gemacht. Na, und wo sah ich mich während meines Tagtraums vor meinem inneren Auge? In einem Verlag, der die großen Kontroversen unserer Zeit in einem Programm zusammenfasst, das ich verantworten würde.
Sie erkennen ein Muster? Ich seufze, während ich das Folgende schreibe: Ich auch.
Was war wohl zuerst da? Bin ich so angelegt, dass ich mir die schwierigen Bereiche suche? Oder wird „man“ so? Werden wir Nachrichtenjournalisten, weil wir so strukturiert sind: mit Fokus auf Knackpunkte, Widersprüche, Missstände? Oder finden wir uns auf Kita-Elternabenden wieder, mit Nachdruck vortragend und wie ein Boxer tänzelnd auf Gegenargumente wartend, weil Kontroversen für uns ja wie Training sind, weil wir das gar nicht anders aus unserem Berufsalltag kennen, irritiert angeguckt von den anderen Eltern, weil es ja gerade nur um so was Profanes wie die Weihnachtsfeier geht? Ertappen uns dabei, wenn die beste Freundin uns aufgelöst ihr Herz ausschüttet, wie wir innerlich reflexhaft erstmal automatisch die Gegenposition einnehmen und sie erst dann in den Arm, weil wir uns kurz erinnern müssen, was hier gerade gefragt ist?
Lassen wir das mit Henne und Ei mal beiseite: Wie wäre das, wären Leute wie J. und ich in einem anderen Umfeld unterwegs? Wenn ich mich den Großteil des Tages nicht mit dem Herausarbeiten von Problemen (und natürlich auch mit der Suche nach ihrer Lösung, das wollen wir nicht vergessen) beschäftigen würde, sondern zum Beispiel mit Themen, Produkten oder Prozessen, die von ihnen ablenken? Oder zumindest nichts mit ihnen zu tun haben? Wie wäre es, erst abends mit den schweren, ernsten, schrecklichen Belangen der Welt konfrontiert zu sein, auf dem Sofa, nach der Arbeit?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag meine Arbeit. Sehr sogar. Es ist ein Gedankenspiel, kein Lamento. Und wenn es mir doch mal zu viel wird, hilft mir der Gedanke eines schlauen Kollegen, der mal sagte: „Wir machen Nachrichten. Nachrichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ausnahmen von der Norm abbilden. Wenn wir über Kriege, Krisen und Katastrophen berichten, heißt das: Sie sind die Ausnahme.“
Manchmal ist es schwierig, das zu vergessen. Manchmal hilft dabei sogar Anfahren am Berg.