„Darüber kotzt das Netz“
Friedrich Merz war im Krankenhaus, berichtetet er am Ostersonntag auf Twitter. Keine Sorge, dem CDU-Chef geht es gut. Er begleitete die Frühschicht auf der Intensivstation des Klinikums Hochsauerland als Hospitant. Merz wäre ein schlechter Politiker und hätte keine Ahnung von guter PR, würde er seinen Tweet nicht mit der Beteuerung garnieren, er sei „nicht als Politiker, sondern als Teil des Pflegeteams“ dabei gewesen.
Das ist natürlich Quatsch, aber wie gesagt: Das gehört zum guten Handwerk, sich bescheiden geben zu wollen.
Was zum journalistischen Handwerk gehören kann, ist, darüber zu berichten. Man könnte zum Beispiel – gerade an traditionell vor allem innenpolitisch eher nachrichtenschwachen Tagen wie Karfreitag, Karsamstag, Ostersonntag und Ostermontag – hinterfragen, ob ein solcher Einsatz Sinn ergibt. Wo Politiker vielleicht auch mal reinschnuppern könnten, um Entscheidungen auf Grundlage praktischer Erfahrungen zu treffen. Um Notstände mit den eigenen Augen zu sehen. Man könnte mal gucken, wer schon mal wann wo wie als „Parkitkant“ war. Ob sich Reden, Missstände, Einstellungen dadurch verändert haben.
Was zum journalistischen Handwerk nicht gehört: Einfach nur eins zu eins nacherzählen, dass Friedrich Merz im Krankenhaus eine Schicht lang mitgelaufen ist. Das ist dann nämlich auch PR. Und eben kein Journalismus.
Was man ebenfalls nicht tun sollte: Den fast schon obligatorischen Text darüber schreiben, wie „das Netz“ reagiert. Denn das ist schrecklich langweilig. Und was man – ich schreibe dies aus gegebenem Anlass – tunlichst vermeiden sollte, wenn man sich schon für diese „Schnell und billig“-Simulation von Journalismus entscheidet: Einfach random irgendwelche Accounts zitieren, die sich über Merz‘ Tag als Praktikant lustig machen – zumindest dann, wenn es wirklich lediglich einer Mini-Recherche auf einfachstem Niveau bedarf, um eins festzustellen: Ein zitierter Account-Inhaber gehört einer Partei an – und zwar nicht der CDU, sondern zum Beispiel den Grünen – und postet zu 99% Inhalte, die Initiativen, Reden und Forderungen der eigenen Leute weitestgehend völlig frei von auch nur leisester Kritik bejubeln. Also handelt es sich um jemanden, den man auch mit Blick auf sein Agieren in den sozialen Medien als „Parteisoldaten“ bezeichnet. Seine Einschätzung von Merz‘ Einsatz, die natürlich nicht allzu positiv ausfällt, einfach Wort für Wort abzutippen oder einzubetten, ist nichts anderes als – ganz genau: PR. Peinlich.
Wo wir schon mal dabei sind: Auch eher unglücklich ist die Textgattung „Aufregung im Netz“. Und trotzdem finden sich genau solche Geschichten so gut wie jeden Tag auf den einschlägigen Nachrichtenseiten. Warum? Weil es JEDE SEKUNDE Aufregung im Netz gibt. Und zwar zu ZIRKA JEDEM THEMA. Es ist nichts Besonderes und besitzt deswegen eine Aussagekraft von stark gegen null tendierend. „Hund beißt Mann“ 2.0 ist das.
Als wäre das nicht schon Argument genug gegen diese Geschichten, fehlt auch hier häufig die Zeit, das Geld, vielleicht auch der Wille, genauer hinzuschauen. Einzuordenen. Meine Lieblingsgeschichte seit vielen Jahren ist in diesem Zusammenhang die mit Julia Klöckner und Nestlé. Klöckner, damals für die CDU Bundesverbraucherministerin, postet auf allen dankbaren Social Media-Kanälen ein Video von sich und dem Nestlé-Chef Deutschland. Das wirkte auf nicht Wenige etwas befremdlich und zu werbig. Und mit „nicht Wenige“ meine ich nicht „das Netz“. Auch aus ihrer eigenen Partei meldete sich die ein oder andere, sagen wir mal: nachdenkliche Stimme.
Wie immer, meldeten die sich auch „im Netz“. Und wie immer, mischten sich unter die nachdenklichen auch die obszönen Stimmen. Die, die man im analogen Leben sehr schnell rausfiltern würde als nicht aussagekräftig, weil in Duktus und Habitus einer am Diskurs eher nicht interessierten Minderheit angehörig. Natürlich wurde Klöckner auch als „Hure“ bezeichnet. Es gibt kaum eine Tat oder Äußerung von Frauen mit einigermaßen Reichweite, auf die nicht einer oder mehrere Primitivlinge reagieren. Das ist überhaupt nicht in Ordnung; ich gebe so etwas zum Beispiel immer weiter an meine Anwälte. Nur weil ein paar Leute charakterlich abgenutzt sind, sollte man nicht auch Abnutzungserscheinungen bei sich selbst hinnehmen und solchen Ausfällen qua Gewöhnung nur noch mit müdem Achselzucken begegnen. Meine Meinung. (Und nein, Herbert648492, ich habe nicht zu viel Zeit. Ich nehme sie mir, um solche Unverschämtheiten nicht einfach hinzunehmen.)
Eine der wirklich großen Websites nutzte den Ärger um Klöckners Video für einen „So reagiert das Netz“-Text. Und zitierte quasi an erster Stelle den „Hure“-Tweet. Den jemand abgesetzt hatte, der nicht nur über keine Kinderstube verfügte, sondern auch über so gut wie keine Follower, keinen Klarnamen und kein Profilbild. Der Tweet hatte zudem bei anderen Usern weder Applaus noch Entrüstung hervorgerufen. Entweder hatte ihn schlicht und einfach niemand gesehen, oder aber man hatte ihn ignoriert. So wie man den grölenden Typen in der Fußgängerzone ja auch ignoriert. Weil der immer grölt und keinen Einfluss auf irgendwas hat außer auf die Dezibelzahl.
Da müsste man sich ja eigentlich als Journalist als Allererstes fragen: Wofür steht dieser Tweet? Welche Denkrichtung repräsentiert er? Für welche relevante gesellschaftliche Strömung spricht der Urheber? Antwort: Für keine. Der Tweet stammte nicht von einem prominenten Vertreter einer anderen Partei, sodass man mal die Frage stellen müsse, wohin der politische Diskurs eigentlich perspektivisch qualitativ steuert. Er stammte nicht von Til Schweiger, bei dem sich diese Frage ja auch seit einiger Zeit stellt. Cathy Hummels war nicht dran beteiligt, auch von keinem Nestlé-Mitbewerber. Dahinter steckte nicht die damalige Kanzlerin, was natürlich tatsächlich auch einen gewissen News-Wert besessen hätte – also, warum zitiert man ausgerechnet diesen Tweet, wenn es nirgendwo im Text um die generelle Verrohung unserer Gesellschaft geht?
Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort darauf lautet natürlich: Klickbait. Seien wir mal ehrlich: Am Liebsten würden die Seiten ihre Geschichten mit „Darüber kotzt das Netz“ überschreiben. Das aber verbietet der Anstand. Also zitiert man die unappetitlichen vebalen Ausscheidungen diejenigen, die über eben jenen nicht verfügen und erhofft sich so viele Leser und in Folge viele zahlende Werbekunden.
Und im Nebenzug erweist man in diesem konkreten Falle Julia Klöckner noch einen Gefallen. Was ihr gewieftes Team nämlich wusste: Eine solche falsche Gewichtung ist die exakt richtige Vorlage für eine tiptop Verteidigungsstrategie. Wenn nämlich schon bei den Profis in der Redaktion von xy.online ganz offensichtlich wenig Wissen darüber herrscht, wie repäsentativ dieses Gepöbel für die laufende Debatte „im Netz“ ist – dann wissen die Leute da draußen das erst recht nicht. Also sprach die Ministerin, der zu große Nähe zur Industrie und zu großer Abstand zu den Verbrauchern vorgeworfen wurd,e von „Hatern“. Und versuchte so, die Debatte downzugraden auf das, was ja eh immer „im Netz“ los ist: Hass, Häme, substanzlose Kanalisierung von orientierungsloser Unzufriedenheit.
Das Netz kotzt. Und Kenner des Netzes gleich mit.