Danke, Corona

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Danke, Corona

„Ich bin ja immer noch positiv“, hörte ich vor wenigen Monaten jemanden neben mir auf meiner Couch sagen. Erst dachte ich, mit meinen Ohren würde etwas nicht stimmen. Es stimmte aber alles mit ihnen. Mit der Person neben mir hingegen stimmte etwas nicht. Bereits ein paar Mal vorher hatte ich so etwas schon über sie gedacht, und nun lieferte sie den letzten Beweis. Seitdem mache ich einen weiten Bogen um sie.

Das ist der extremste Vorfall in meinem Umfeld, mit Abstand. Die meisten haben sich verantwortungsbewusst, umsichtig, solidarisch, durchdacht verhalten. Und tun es noch.

Corona kam für mich zur passenden Zeit. Das ist, gar keine Frage, auf der einen Seite eine unglaublich privilegierte Aussage. Mein Job war die ganze Zeit über sicher. Ich konnte gut von zu Hause aus arbeiten, wenn ich wollte oder musste oder durfte. Ich bin gerne alleine und kann mich gut disziplinieren. Just zu Beginn des ersten Lockdowns begann ich außerdem, an meinem schon länger geplanten Buch zu arbeiten. Besser kann man es nicht timen. Ich verpasste exakt nichts, wenn ich am Feierabend am Schreibtisch saß und schrieb. Es fand ja sowieso nichts statt.

Auf der anderen Seite kam Corona, kam die weltweite Entschleunigung mir sehr entgegen, weil ich nach einigen Jahren mit sehr viel privater Unruhe Entschleunigung gut gebrauchen konnte. Ich musste mich nicht mehr anstrengen, mit dem Rest der Welt Schritt zu halten und gleichzeitig etwa den plötzlichen Tod meiner Mutter zu verarbeiten. Es gab mehr Ruhe, es gab mehr Zeit für mich. Und auch die eben ohne Angst, etwas zu verpassen.

Im März diesen Jahres dann hatte ich Corona. Milder Verlauf, keine Langzeitwirkungen. Bis auf eine: ein neues Menschenbild. Lädiert und aufpoliert.

Lädiert haben es die überraschend unangenehm Aufgefallenen. Damit meine ich nicht den Mob, der mit Fackeln vor Privathäuser von Politikern gezogen ist, oder „Querdenker“, die sich Tampons vors Gesicht hängen, um so ihr Freidrehen gegen die Coronamaßnahmen zu demonstrieren. Wie bizarr Menschen sein können, wusste ich vorher schon, ich bin ja schon seit ein paar Jahren aktiv auf Twitter.

Es sind die, die Facetten von sich preisgegeben haben, die vorher im Verborgenen geblieben waren. Ich habe kluge Menschen erlebt, die sich plötzlich für klüger hielten als Fachleute und mit einer sie der Lächerlichkeit preisgebenden Arroganz auftraten. Die die abenteuerlichsten Argumente gegen stichhaltige Studienergebnisse ins Feld führten. Einfach nur, weil ihnen der Shopping-Samstag so fehlte. Leute, die mitten in der fettesten Delta-Welle in den Urlaub flogen und von dort in den sozialen Medien Postings absetzten, in denen sie so taten, als wären sie zu Hause geblieben. Leute, die nicht dazu standen, dass sie die Maske nicht tragen wollten und sie hektisch, wie ertappte Kinder, hochzogen, wenn sich ihnen jemand mit bekanntlich anderer Meinung näherte.

Es sind eher die kleineren Ausschläge, die etwas verschoben haben. Eine Delle in mein Menschenbild gefügt. Gut, nun kann man natürlich sagen: Alles ist klein, verglichen mit einem Fackelaufmarsch. Aber Fackelaufmärsche sind ja auch kein Maßstab.

Und dann sind da die anderen. Eine Freundin hat einen Impfgegner als Bruder, die Mutter eines Freundes entpuppte sich als radikale Querdenkerin und zieht das nun mit Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine weiter durch. Die Freundin einer Freundin ist völlig abgedreht, spricht allen Ernstes von einer „Plandemie“.

Die Freundin trifft ihren Bruder weiter regelmäßig und bittet ihn vorher, sich zu testen. Sie ist Mutter zweier Kleinkinder. Und er dem Vernehmen nach ein toller Onkel. Der Freund meidet alle strittigen Themen, wenn er seine Mutter sieht. Und die Freundin hat ihre Freundin bei Facebook entfreundet, weil sie die Postings nicht mehr erträgt, lädt sie aber weiter zu ihrem Geburtstag ein. Weil sie sie nicht ganz an den Wahn verlieren soll. Und weil sie doch Freundinnen sind!

Das sind die, die mein Menschenbild aufpolieren. Die zu ihren Leuten halten, trotzdem. Die klar sagen, was sie denken, und Bedingungen für Treffen stellen. Nicht aber für ihre Zuwendung. Die ist bedingungslos.

Danke, Corona. Für mehr Graustufen in meinem Menschenbild.