31. März 2022
Vor vielen Jahren, 2008, war ich Wellenreiten in Portugal. Das war kein Spaß, vor allem die ersten Tage nicht. Neopren-Anzüge sind nur beim ersten Anziehen ok; ab Tag zwei sind sie klamm und verfügen über eine raue Salzschicht, ab Tag drei schürft man sich an ihnen beim Anziehen die Fingerknöchel aus. Das Anziehen selbst liegt ob der notwendigen Verrenkungen in punkto Erotikfaktor irgendwo zwischen Fußnägelschneiden und Pickelausdrücken (übrigens: Videos vom Pickelausdrücken sind ein großes Ding auf Instagram. Dazu wann anders vielleicht mal mehr).
Für mich persönlich jedoch das Anstrengendste: Das Verhältnis zwischen meiner Zeit mit Kopf unter Wasser und mit Kopf über Wasser lag bei zirka 100:1. Ich schluckte dermaßen viel davon, dass ich Tage nach meiner Rückkehr nach Berlin im Maxim-Gorki-Theater Theater das großartige Schauspiel vorne auf der Bühne (es gab „Anna Karenina“ mit Fritzi Haberlandt) hinten auf dem Rang kurz toppte: Als ich mich herab beugte, um etwas aus meiner Handtasche zu holen, schoss ein Strahl Wasser aus meiner Nase. Meine damals neben mir sitzende Freundin Henni erzählte erst kürzlich noch davon, mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. (Mit Maske wäre das übrigens nicht passiert. Ich sags nur.)
Es gibt jedoch eine Art des Wellenreitens, die ist viel, viel einfacher: das Reiten auf der Empörungswelle.
Was der sächsische Miniterspräsident da getwittert hat, ist falsch. Natürlich ist die Unterscheidung zwischen Deutschen und Juden Quatsch, und vor allem ist das für jeden Juden, jede Jüdin in diesem Land ein Schlag ins Gesicht und, um jemanden bei Twitter zu zitieren, damit „fördert er das, was […] Juden das Leben hier schwer macht“.
Man muss das kritisieren. Man muss Michael Kretschmer fragen, wie das passiert ist. Wie wenig er sich mit der Thematik auskennt. Welches Denken bei ihm dahinter steckt. Oder aber, warum er ein so wichtiges und sensibles Thema anscheinend gedankenlos behandelt. Ob er weiß, was er mit solchen Tweets anrichtet. Und warum er das anscheinend nicht tut.
Was man aber auch muss: Selber Worte abwägen. So schnell, wie eine sehr große Menge Menschen Gil Ofarim geglaubt hat, genau so schnell waren diejenigen nun zur Stelle, die Kretschmer als Antisemiten bezeichneten. Die also ebenso ein sehr sensibles Thema relativ unsensibel anpacken. Dass darunter Mitglieder anderer Parteien als der CDU sind, der Kretschmer ja bekanntlich angehört, macht die Sache nicht besser. Eine Keule bleibt eine Keule, egal, wer sie benutzt.
Diese Empörungswellen bringen sehr viel Aufmerksamkeit. Allerdings nur denjenigen, die am empörtesten sind – Stichwort Algorithmen. Es tut der Diskussion keinen Gefallen, denn es verdrängt nach und nach immer mehr Grautöne aus unser aller Debattenkultur.
Die unerbittliche Härte, die dadurch einzieht, macht es unmöglich, sich auszutauschen. Sie stößt Menschen ab und zurück, sie lässt sich Menschen zurückziehen. Dieses Freund-Feind-Schema simplifiziert unsere komplexe Welt. Aber nicht mit dem Resultat, dass wir sie besser verstehen. Sondern mit dem, dass wir uns nicht mehr verstehen. Weil einige gar nicht mehr versuchen wollen, zu verstehen. Sie wollen Recht behalten. Oft nur für den Klick.
Das Empörungs-Wellenreiten ist einfacher als das genuine, auf dem Meer. Aber es ist ekliger. Es schießt einem dabei kein Wasser aus der Nase. Man versprüht Gift.