20. März 2022
Sie sehen hier einen Dialog, der sich unter meinem Tweet entspann, in dem ich die Stimmungslage meiner Timeline ob des heute eingetretenen Freedom Days zusammengefasst hatte:
Der Tweet erntete viel Zustimmung, sorgte für viel Beifall, ein paar beleidigte Reaktionen und für Gegenrede. In letzterer kam oft das Argument namens „Eigenverantwortung“ vor.
Der nun ganz oben zitierte Mann, Herr Ohler, ist Anhänger derselben und lehnt den Nanny-Staat, wie er es nennt, ab. Man kann das so sehen, daran ist ja überhaupt nichts verwerflich, im Gegenteil, das Modell Eigenverantwortung fußt auf einem sehr positiven und wohlwollenden Menschenbild. Man kann also null verurteilen, was Herr Ohler schreibt, und man kann ihm auch nicht vorwerfen, in diesem Dialog Unwahrheiten über Corona zu verbreiten. Man kann es anders sehen, man kann ja immer alles auch anders sehen. Ein guter Freund von mir sieht grundsätzlich immer erst mal alles anders, das ist für ihm eine Art Sport. Ihn ruft man ihn halt immer dann an, wenn man die eigenen Argumente austauschen will. Und eben nicht, wenn man Trost sucht oder nach Bestätigung. Wenn man das weiß und das Glück hat, über mehr als einen Freund im Leben zu verfügen, ist das ja ok.
Mit Herrn Ohler befreundet sein möchte ich glaube ich eher nicht, der wurde mir gegenüber heute noch ein bisschen frech (nicht ausfallend, man ist ja inzwischen genügsam). Sein oben angeführtes „Argument“, seinen Tweet hätten ja Leute mit einem Herzchen versehen im Gegensatz zu dem desjenigen, der etwas anders sah als er, konnte ich nämlich nicht unkommentiert stehen lassen. Denn das ist ja genau eines der Hauptprobleme von allem: dass die Vernünftigen so oft schweigen.
Besorgte Bürger gehen auf die Straße, erzählen was von Überfremdung, erzählen was von Melinda und Bill Gates, erzählen was von „Donald Trump hat gerade Berlin erreicht, wir sollen alle den Reichstag stürmen, er kommt dann nach!“ – und, zack: große Lautstärke suggeriert große Anhängerschaft, sichert große Aufmerksamkeit, zieht große Reaktionen nach sich. Auch politische. Währenddessen sitzt die schweigende Mehrheit erstaunt am Rand, begleitet mit Staunen das Spektakel und zieht das vornehme Schweigen vor, denn when they go low dann ziehen wir unsere Augenbrauen vielsagend hoch und schweigen, denn das hat mehr Stil als primitives Gegröle und das Beklatschen des rauflustigsten Boldes. Das hier ist nichts für uns, wir sind in der Mehrheit, was sollen wir solche Inhalte noch mit unserer Aufmerksamkeit adeln, sie werden sich ohnehin nicht durchsetzen.
Nun schreibt Herr Ohler ja, wie bereits erwähnt, weder etwas Aufrührerisches oder gar Primitives. Und doch bemüht auch er das „Guck, mir klatschen mehr Beifall als dir“-Argument. Das ja gar keins ist. Aber zieht. Und was soll ich Ihnen sagen? Sein Tweet alterte nicht gut. Überhaupt gar nicht gut. Sogar ziemlich mies. Stand jetzt ist die Sache aus seiner Sicht 13:232 Herzchen ausgegangen. Da wollte die Mehrheit doch nicht mehr schweigen, als jemand sie so plump herausgefordert hatte.
A propos Mehrheit: Eine solche findet die Abschaffung der Maskenpflicht laut Umfragen doof. Tja, die anderen waren aber lauter und entschlossener. Ich bin gespannt, wohin das führt und hätte gern heute mal in der Bahn geguckt, ob das eingetreten ist, was ich nach zwei Jahren Pandemie erwarte: dass schon jetzt, vor Ende der Übergangsfrist – hier in Berlin am 1. April, wann auch sonst?! – die Leute aufhören, die Maske auch da zu tragen, wo sie weiter vorgeschrieben ist. Konnte ich aber nicht gucken. Ich hab ja Corona.