9. März 2022
Zweimal habe ich mich heute entsetzlich geschämt.
Das erste Mal, als ich die Push-Meldungen las über die Bombardierung einer Geburtsklinik in Mariupol mit Frühchenstation und dachte: „Wie kann man denn so etwas machen? Menschen töten, die völlig wehrlos sind? Die entweder gerade Leben geschenkt oder geschenkt bekommen haben? Die Kleinsten, Wehrlosesten, Unschuldigsten? Und geschundene Frauen, die Monate lang wachsendes Leben in sich getragen und es behütet haben? Wie barbarisch ist das?!“
Nur: Was im Krieg ist denn nicht barbarisch? Wer bin ich, zu qualifizieren? Denkt man das konsequent zu Ende, ist ja die logische Schlussfolgerung meines Gedankens, Ziele aufzuzählen, die anzugreifen nicht so schlimm wäre. Monströs.
Der zweite Moment der Scham: der, als das Deutsche Rote Kreuz berichtete, dass der so genannte Fluchtkorridor vermint gewesen sein soll. Da war ich entsetzt. Das heißt ich war es vorher nicht. Putin hat die Ukraine erst vor zehn Tagen überfallen. Und schon ist ein gewisser Gewöhnungseffekt bei mir eingetreten. (Und es hat mich Tage gekostet, um zu erkennen, dass „Fluchtkorridore“ nichts anderes bedeuten als Vertreibung. Die Alternative wäre ja Tod. Denn dass der Aggressor nicht aufzuhören gedenkt mit seinem entsetzlichen Treiben, impliziert seine Machtdemonstration in Form der Gewährung von „Fluchtkorridoren“ ja.)
Vielleicht ist Scham das Gefühl, das mein Unterbewusstsein dem der Ohnmacht vorzieht.
Vier Jahre lang war ich Krisenreporterin. Über so etwas Furchtbares wie Putins Krieg musste ich während dieser Zeit nicht berichten, bei Weitem nicht. Ein paar Situationen waren aber schon dabei, die mich sehr berührt haben. Und die schwer auszuhalten waren. Was geholfen hat, ich bin erst nach einiger Zeit darauf gekommen: dass ich denen eine Stimme geben konnte, die Hilfe brauchten. Und das Wissen, dass nach meinen Beiträgen und Live-Schalten Spendentafeln eingeblendet wurden. Zumindest dort, wo Katastrophen stattgefunden hatten und kein strukturelles Elend herrschte, war das ein Trost. Für mich. Da ist es wieder.
In den Krieg eingreifen werden wir wohl nicht. Alle Diplomatie ist bislang gescheitert. Wir sehen Bilder von Toten, von Abschieden. Kleine Gesichter hinter Busfensterscheiben. Wir sehen tapfere ukrainische Kämpfer. Aber wir sehen auch auf der Weltkarte, wer da gegen wen kämpft. Wir sehen und hören eine Reporterin an der polnischen Grenze berichten, dass die ersten, die ankamen, noch weinten. Weil sie – im zeitlichen Sinne – vor dem Krieg geflohen waren. Die, die jetzt ankommen, können nicht mehr weinen. Weil sie unter Schock stehen. Sie sind im Krieg geflohen. Es ist eine Klemme, aus der die Menschen in der Ukraine nicht herauskommen. Aus der die Welt nicht herauskommt.
Die einen versuchen sich emotional aus dieser Klemme zu befreien, indem sie zum Hauptbahnhof hier in Berlin und an andere Orte gehen und Ukrainern bei sich zu Hause Obdach gewähren. So wie meine russische Bekannte. Viele, sehr, sehr Viele spenden. Auch nicht Wenige verfolgen bewundernd das Handeln des unglaublichen Präsidenten Wolodimir Selenskij.
Nächstenliebe, Heldenverehrung und Großzügigkeit sind kolossal bessere Gefühle als Ohnmacht.
Ich schäme mich. Auch für das Wort „Ich“, das so oft in diesem Text vorkommt. Aber ich kann das nicht auflösen.