Berlin rastet aus: ein neuer Supermarkt!
Ich lebe seit 17 Jahren in Berlin. In der größten Stadt, in der ich bisher je gelebt habe. Gebürtig stamme ich aus Gütersloh. Da wurden wir quasi jedes Jahr zum Zählappell gebeten, weil wir ENDLICH die 100.000 durchbrechen wollten. Hat erst nach meinem Wegzug geklappt. Worin ich keinen Zusammenhang sehe.
Gütersloh ist ein Dorf. Ob 80.000 oder über 100.000 Einwohner – Gütsel besteht aus einem Kern und vielen eingemeindeten Bauernsprengseln drum herum. (In die wir Kerngütersloher ab Teenie-Alter an den Wochenenden zum Feiern gefahren sind, aber die völlig missglückte Freizeit-Politik meiner Heimat ist ein anderes Thema und womöglich zu nischig.)
Alle kennen in Gütersloh also alle. Ich finde dieses Konzept ja schön. Meine Eltern waren selbstständig, meine Großeltern auch, dazu waren alle auch noch Vereinsmeier und Stammtischler. Zogen mein Vater oder auch meine Mutter und ich durch die Stadt, winkten wir abwechselnd bis zum Abwinken in sämtliche Richtungen. So definiere ich Geborgenheit.
Gut, Provinz bringt natürlich nicht nur Vorteile mit sich. Diskretion, Rebellion oder Rumstümpern spielen sich selten im Verborgenen ab. Einmal zum Beispiel tönte ich mir heimlich bei einer Freundin die Haare lila, fuhr die ca. 10 Minuten Distanz mit dem Rad nach Hause – und erlebte dort statt des Überraschungs- nur den Entsetzenseffekt. Eine Freundin meiner Mutter hatte mich von ihrem Laden aus gesehen und direkt die Style-Polizei meine Eltern informiert. Ähnlich lief es ab, als ich mit sehr frischem Führerschein einem Kumpel meines Vaters den Seitenspiegel abfuhr.
Bei allen Nachteilen für Fahranfängerinnen und Jugendliche auf der Suche nach der optimalen Haarfarbe („Wildpflaume“ ist es jedenfalls nicht) – ich liebe ja Provinz. Wenn ich viele Leute kenne, grüße, zufällig treffe und über Jahre begleite, finde ich das schön. Nach Berlin bin ich nicht gezogen, weil ich die Anonymität der Großstadt schätze. Sondern, weil ich jemanden sehr schätzte und diese Anonymität dafür in Kauf genommen habe.
A propos Kauf: Heute fühle ich mich, als wäre ich wieder in Gütersloh. Heute hat nämlich der Edeka an der Winsstraße endlich geöffnet, und das hat tatsächlich zu einem kleinen Twitterdialog geführt mit Leuten hier aus dem Kiez. Wir freuen uns! Vor ich glaube sechs Jahren war das Haus, in dem sich der Vorgänger-Supermarkt befunden hatte, abgerissen worden, und nun ist der Neubau fertig. Ich möchte eine Nachbarin zitieren, die ich heute flugs informierte:
Nun ist es nicht so, dass wir hier einen Mangel an Supermärkten hätten. Ich lebe, Klischees kommen nicht von ungefähr, im Prenzlauer Berg, und die Infrastruktur ist tipptopp. (Ist sie aber auch in Gütersloh-Avenwedde oder Harsewinkel zumindest in dem Maße, dass ein neuer Laden da jetzt nicht zu dreitägigen ekstatischen Paraden führen würde.)
Nein, wir haben keinen Mangel an Supermärkten. Wir haben einen Mangel an Freundlichkeit.
Durch den temporären Wegfall des ehemaligen „Flirt-Kaisers“, so hieß der jetzige Edeka einst wegen der dort legendären Anbahnungsquote zwischen Fleisch und Pflaumen, mussten wir ausweichen. Unter anderem auf einen Markt, in dem nicht der Kunde König ist, sondern der motzigste Mitarbeiter oder die motzigste Mitarbeiterin.
Man ist hier ja viel gewohnt. Im Café: „Welchen Kuchen haben Sie denn heute?“ – „Steht allet inna Vitrine!“ Beim Bäcker: „Entschuldigung, ist das Brot frisch?“ – „Nee, sind Sie et?!“ Beim Italiener, den der „Lonely Planet“ wegen seiner unfreundlichen Mitarbeiter anpreist (wie irre kann man sein?): „Könnten wir die Nudeln vielleicht auch als Kinderportion haben?“ – „Nein, könnt Ihr selber zu Hause kochen.“
Im Ausweichsupermarkt würde man vom Rest der Belegschaft vermutlich geächtet, würde man so mit der Kundschaft reden. Weil man den Kodex verletzen würde. Zu freundlich.
Nun also haben wir wieder Sonne im Herzen, denn egal, wer im neuen Edeka wohl arbeitet: Es kann nur freundlicher sein. Morgen werde ich mir das in aller Ruhe anschauen, und habe auf Twitter schon versprochen, zu berichten. Flirten will ich nicht. Nur ein paar Bananen kaufen. Und nicht angeschrien werden. Ost-Berlin eben.