Das Ende unserer Kindheit.
Jetzt ist sie nicht mehr da, die Queen. Dabei war sie doch immer da. Ich bin ziemlich genau 44,5 Jahre alt und heute Morgen zum ersten Mal in einer Welt ohne Elizabeth II. aufgewacht. Neun von zehn Menschen, so ist zu lesen, geht es ebenso. Wahnsinn.
Zwei Tage, nachdem sie die neue britische PM Liz Truss empfangen hat, ist die Königin von England gestorben. Kurz nach dem 25. Todestag von Diana.
Damals, als Lady Di starb, rief mich meine Oma Therese an und weckte mich. Sie musste die Nachricht loswerden. In Omas Wohnzimmer habe ich regelmäßig die kompletten Niederungen der deutschen Yellow Press durchgeblättert. Ich bin aufgewachsen mit stetigem Informationsfluss über das Verhältnis zwischen der Queen und ihrer ungeliebten Schwiegertochter.
Das Wohnzimmer, das Haus meiner Oma, waren ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Wollten meine Eltern mal einen draufmachen mit dem Kegelclub oder den Freunden aus dem Schützenverein, schlief ich bei der Omma unter der dicksten Daunendecke der Welt. Es roch überall nach „Uralt Lavendel“, das sie großflächig benutzte, und in diesem Geruch saß ich neben ihr auf dem Sofa und guckte mit ihr „Der blaue Bock“ mit Heinz Schenk. Neben dem Sofa, auf der Kommode, stand ein Bild von Papst Johannes Paul II., in einer kleinen Schale daneben lag ihr Rosenkranz. Wenn sie ihn betete, musste ich leise sein. Jeden Samstagmorgen ging meine Oma, die bis zu ihrem 80. Geburtstag arbeitete, zum Friseur, danach in die Stadt. Von dort aus kam sie zu uns, zu Fuß, sie hatte keinen Führerschein. In ihrer Handtasche: je eine Tafel Milka Vollmilch und je zwei Mark Taschengeld für meinen Bruder und mich. Abends gingen meine Mutter und ich mit ihr in die Kirche, und sonntags dann fuhren wir zu ihr und aßen Mittag. Meistens gab es Rouladen, damals mein Lieblingsessen als Kind. Meine Kindheit war sehr westdeutsch und sehr behütet.
Meine Oma war immer da und ist es seit 2001 nicht mehr. Auch meine Mutter ist nicht mehr da. Wer seine Mutter oder seinen Vater verloren hat, weiß: Egal, wie alt man bei ihrem Tod ist – die Kindheit geht damit noch mal ein Stück zu Ende. Die ist dann noch ein bisschen mehr vorbei. Diejenigen, die lange die Hand schützend über uns hielten, sind weg. Und damit rückt man selbst unfreiwillig nach. Man ist in der natürlichen Rangfolge näher dran – näher daran, als nächste abzutreten.
Sicherheiten gehen. Und diese Zeiten sind, es ist schon jetzt eine Binse, für meine Generation äußerst ungewohnt unsicher. Pandemie, Rezession, Krieg quasi direkt nebenan, you name it. Und inmitten dieses neuen, nicht schönen Lebensgefühls, bricht eine weitere Konstante weg. Das könnte ein Grund dafür sein, dass ich gestern Abend auf meinem Sofa, in meinem Wohnzimmer, schlucken musste. Und warum social media gestern das war, was es gerne viel, viel öfter sein sollte: Das Lagerfeuer, um das wir uns gemeinsam setzten, ein Gefühl teilten und Erinnerungen. Unter anderem die Wehmut an unbeschwertere Zeiten.