5. Mai 2022
Sonntag also eine Lesung vor echt anwesenden Leuten. Meine zweite in dieser Form seit mein Buch vor – oh, Moment, HEUTE GENAU EINEM JAHR rausgekommen ist. Sekunde, kurz twittern und danke sagen!
So. Weiter. Kurz vor Erscheinen vergangenen Frühling unterhielt ich mich mit zwei Autorinnen, die schon mehrere Bücher veröffentlicht hatten. Sie seien so traurig, sagten sie unisono, weil durch Corona so gut wie keine Lesungen stattfinden würden. Die seien aber das Tollste am Bücherschreiben!
Ich las erst mal digital. Saß in meinem Arbeitszimmer, blickte auf meinen Computerbildschirm in Zoom-Räume und in interessierte Gesichter von Menschen, die wiederum vor ihren Rechnern saßen. Digitale Lesungen, habe ich mir als Neuling erklären lassen, funktionieren anders als analoge. Die Leute können oder wollen am Bildschirm nicht so lange zuhören, sondern lieber diskutieren, lautet die Begründung. Finde ich gut, klappte gut.
Und dann kam meine erste „echte“ Lesung. Auf einem Literaturfestival in Bayern, mitten im Sommer. Draußen, pandemiekonform. Ich freute mich wie Bolle, war stolz wie Oskar, suchen Sie sich was aus. An einem frühen Samstagabend sollte ich dort lesen. Perfekt, dachte ich, und zuckelte mit der Bahn los. Davon mal abgesehen, dass ein Mann mir beinahe die Visage poliert hätte, weil ich ihn ums Masketragen gebeten hatte, verlief die Fahrt super. Ich ging noch mal die zu lesenden Passagen durch, bereitete mich auf mögliche Fragen vor, prägte mir den zirka 50 Meter langen Weg vom Bahnhof in meine Unterkunft ein. Ich war vorbereitet. Im Kopf.
Auf die niederschmetternde Praxis jedoch war ich nicht vorbereitet gewesen: 12 Leute waren da. Das war der Peak. Schwitzend, mit meinen Beinen hinunterlaufendem Schweiß saß ich vor ihnen, las, antwortete auf die Fragen meiner Moderatorin, und betete, es möge bald vorbei sein. Neben der niedrigen Zahl an Gästen gab es nämlich einen weiteren Unterschied zu digitalen Lesungen: Ich bekam 1:1 mit, kramte jemand während der Veranstaltung sein Mobiltelefon hervor oder lenkte sich anderweitig von meinen Inhalten ab. Menschlich, aber auch sehr verunsichernd.
Im Nachhinein stellte sich raus: Parallel zu mir absolvierte die Nationalmannschaft gerade ein EM-Spiel. Weil die deutsche Elf spielte, kamen zu mir nur zwölf. (Rede ich mir ein, lassen Sie mich bitte in dem Glauben, danke!)
In Essen sind jetzt schon mehr Leute angemeldet, und das ist schön. Das kleine Trauma (kleiner Scherz, es ist natürlich kein echtes Trauma) kann ausgemerzt werden. Denn es ist definitiv noch vorhanden: Gestern telefonierte ich mit einem Mann von der New York Times – der hier seinen Angaben zufolge mitliest, also schöne Grüße! – und erzählte, dass ich an meinem nächsten Buch sitze. Er fragte nach dem Erscheinungsdatum. Und ich registrierte, wie ich innerlich zurückwich und einen Termin zirka 2025 vor meinem inneren Auge erschien. Dann, so meine Hoffnung, ist erstens Corona kein Thema mehr für Veranstaltungen, und zweitens haben sich die Leute aber auch wieder entwöhnt von der digitalen Teilnahme an derlei Events. Die sind nämlich, ist zu hören, auch jetzt wirklich spärlich besucht.
Meinen Groll auf die Nationalmannschaft habe ich übrigens wieder im Griff. Es sind Fußballer. Sie sollen kicken, nicht Termine managen. Natürlich sind die nicht immer perfekt in ihrem Timing. Da bin ich generös.