15. Mai 2022
Ich höre und lese die tumbe und gefährliche Behauptung von der „Lügenpresse“ relativ häufig. In den sozialen Medien. Auf Drehs, sobald jemand das Kamerateam und unsere Herkunft erkennt. Wo ich es äußerst selten höre: in meinem privaten Umfeld. Warum sollte ich mich auch freiwillig mit Menschen umgeben, die sich einem Narrativ von Demokratiefeinden anschließen? Gestern Abend aber fand ich mich an einem Tisch wieder, in kleiner Runde, wir waren zu siebt – und unter uns ein Vertreter des „Lügenpresse“-Unsinns.
Ursprünglich war ich mit drei Freundinnen verabredet gewesen, das Ganze seit zwei Wochen geplant. Eine nach der anderen sagte am Freitag ab: schiefer Haussegen bei der einen, irgendwie verpeilt war die andere, und die dritte saß beruflich außerhalb Berlins fest. Ich erzählte Freundin E. fasziniert davon, die kurzerhand beschloss, mich mit zum Chinesen zu nehmen. Sie und ihr Partner T. (beide Österreicher) waren von ihrem guten Freund B. und dessen Frau dorthin eingeladen worden. Außerdem sollte noch irgendeine Frau dazu kommen, die mit irgendeinem entfernten Bekannten von irgendwem mal was gehabt hatte, und ihren Großcousin mitbringen, der auch Österreicher ist, und dann ist man ja quasi von einem Schlag und wird sich schon verstehen.
Jaha. Denkste.
Im Grunde war mir schon klar, wohin die Reise ging, als er mich nach meinem Beruf fragte, nach meinen Schwerpunkten, und daraufhin: „Dürftest du eigentlich auch positiv über die AfD berichten?“ Ich antwortete, dass ich alles darf, jedoch berichten ja bedeutet: weder positiv noch negativ, sondern einordnend, analytisch, nicht aber kommentierend. Seine Anschlussfrage: „Und was meinst du, wie ist es um die Pressefreiheit bestellt in Deutschland?“ Ich erwiderte: Na ja, war schon mal besser, die Einschränkungen werden mehr, die Bedrohung wächst, auf Demos nur noch mit Security…
Er hatte jedoch wohl „Meinungsfreiheit“ gemeint, als er „Pressefreiheit“ gesagt hatte, denn seine Reaktion auf meine Antwort hatte mit dieser wenig zu tun. Sie lautete: „Ja, aber Ken Jebsen wird hier in Deutschland zensiert!“ Auf meine Nachfrage, worauf konkret er sich beziehe, nannte er Jebsens Sperre bei YouTube. Ich entgegnete erstens die korrekte Definition von Zensur, schilderte zweitens die problematischen Inhalte Jebsens, daraufhin kam er mit RT (früher Russia Today), ich nannte Beispiele für Staatspropaganda, erläuterte kurz den Unterschied zu Journalismus, das war aber alles gar nicht von Belag für ihn, er kürzte den argumentativen Teil schnell ab und erklärte er mir, die Medien (ja, „die Medien“) würden ja ständig lügen.
Der Rest des Tisches muss ihn ähnlich angeguckt haben wie ich. Bis dahin hatte er sich – zumindest, so weit ich das beurteilen kann von außen – nicht unwohl gefühlt. Jetzt aber ruderte er ein wenig zurück und schob nach, was er wohl für konsensfähig in der Runde hielt: „Zum Beispiel die Bild.“
Ich halte weder „die Medien“ noch den Vergleich mit der Bild für klug oder gar redlich, hatte jetzt ja auch schon genug gehört, stellte klar, dass ich mit Bild nicht in einen Topf geworfen werden möchte, das Label „die Medien“ für zu undifferenziert halte und die Mär von der Lügenpresse für gleichsam unterkomplex wie gefährlich. Dann ging ich noch kurz im Kopf mögliche Handlungsoptionen durch (seine Thesen durchdeklinieren mit der Bitte um diese Thesen untermauernde Fakten; mein Buch in Form eines engagierten Impulsreferats zusammenfassen und ihn somit ins Koma quatschen; etwas anzünden; einfach gehen), und entschloss mich: sitzenbleiben, Gespräch weiterführen. Nichts von dem, was er bisher vorgebracht hatte, war fundiert. Und vor allem aber: Ein Gespräch war ja möglich.
Was mich zugleich – auch heute noch – sehr erschreckte, war nämlich ja gleichzeitig auch eine Chance: Er war kein wildgewordener Irrer auf einer Querdenkerdemo, dem beim Reden Spucke aus einem Mundwinkel läuft. Auch kein hoch aggressiver Gegner des ganzen angeblichen Schweinesystems, der sich vor Jahren abgekoppelt hat und mit Mitte 50 noch bei Mutti wohnt. Kein Twitteruser mit dem Namen „Penispropeller85“. Vor mir, direkt vor mir, saß ein sehr gut verdienender, akademisch gebildeter Mann. Wirtschaftsprüfer und Partner in einer großen, bekannten Beraterfirma. Es war die Gelegenheit, ohne Zeitdruck, weil ich beruflich unterwegs war, ohne Angst vor möglichen körperlichen Angriffen der Gegenseite sowie ohne innerliches Abwinken ob seines Geisteszustands endlich mal zu erfahren, wie sich so ein Weltbild eigentlich zusammensetzt. Ohne Twitterpublikum. Ohne die Möglichkeit, einfach nicht mehr zu antworten, wenn ihm die Argumente ausgehen.
Das ging aber nicht. Denn nun übernahm der neben mir sitzende B., der den Abend organisiert hatte. Vielleicht fühlte er sich verantwortlich und es war ihm peinlich, dass jetzt so ein Quatsch erzählt wurde. Keine Ahnung. Jedenfalls: B. wurde sauer und hielt ein flammendes Plädoyer für die deutsche Presselandschaft, für den Zustand der Meinungsfreiheit hierzulande. Nannte gute Argumente, warum Ken Jebsen und RT nicht so großartige Quellen sind und warum er gerne Rundfunkgebühren zahlt. B. schraubte sich dermaßen hoch – so hoch komme ich mittlerweile gar nicht mehr. Nicht wegen Altersmilde, sondern wegen Abnutzung. Ich höre all diesen Mist so oft, dass ich die Konsequenzen dieses „Lügenpresse“-Geschreis zwar durchaus noch ernstnehme, mich allerdings auf keine Debatten mehr einlasse. Es lohnt sich nicht. Meine Motivation für das Gespräch wäre im Leben nicht gewesen, den Mann zu überzeugen, dass es die Lügenpresse nicht gibt. Das versuche ich nicht mal mehr an Wochentagen im beruflichen Kontext geschweige denn an meinem Samstagabend in einem sauleckeren Restaurant (Hot Pot – super, ich hatte ja keine Ahnung!).
Ich hätte dieses Gespräch also gerne geführt, ich hätte es initiiert. Ich bin nicht konfliktscheu. Aber als B.s Frau ihm ihre Hand aufs Bein legte und ihn bat, es nicht eskalieren zu lassen, entschloss ich: Wir wechseln das Thema. Ich war das Anhängsel gestern Abend. Ich hatte genau zwei von sechs Leuten gekannt, als ich im Restaurant angekommen war, ich würde den Abend nicht an mich reißen. Es war ja für alle Wochenende.
Wir saßen noch zwei Stunden zusammen. Nach einer habe ich es über mich gebracht, den Lügenpresse-Behauptungs-Mann wieder anzusprechen, bei unverfänglicheren Themen. Wir haben den Abend mit Anstand hinter uns gebracht, war später auf dem Heimweg unser Fazit. Anstand, den ich dem Mann abspreche.