11. April 2022
Es hatte sich angebahnt, es ist passiert: Anne Spiegel ist zurückgetreten. Nur vier Monate nach dem Antritt einer in ihrer Form im Bund noch nie zuvor dagewesenen Regierung. Anne Spiegel ist ein Opfer. Das Opfer einer Kampagne des politischen Gegners. Das Opfer einer Kampagne der Springer-Presse. Das Opfer eines unbarmherzigen Politikbetriebs. Das Opfer unserer Leistungsgesellschaft. Misogynie, Haifischbecken, Unbarmherzigkeit – es kursieren heute sehr viele Fragen, noch mehr Erklärungen, Meinungen, Weltanschauungen, Einordnungen.
Ist Anne Spiegel wirklich ein Opfer? Weil sie in einer Gesellschaft lebt, die Opfer verlangt? In einem Beruf gearbeitet hat, für den man sich aufopfern muss, wenn man ganz nach oben will? In einem patriarchal strukturierten System untergehen musste, weil Frauen in Machtkämpfen schneller geopfert werden? Ein Bauernopfer also? Das ist die Lesart der einen Seite, um es mal grob zu rastern.
Wo eine Seite, da mindestens noch eine andere. Die sagt: Jede und eben auch jede von uns muss Opfer bringen. Ein Mann, der einen Schlaganfall erlitten hat, vier Kinder, zwei hohe politische Ämter, noch dazu in einer Katastrophe – da braucht es ein Einsehen. Da muss man das Opfer bringen und sagen: „Geht nicht. Ich stecke zurück.“ Oder, wie Frau Herzbruch es formuliert: „Es gibt kein Recht auf ein Amt per se.“
Ich weiß nicht, was davon richtig ist. Aber dies hier scheint sicher: Was den vergangenen Jahren zum Teil zum Opfer gefallen ist: Maßstäbe. Einheitliche Maßstäbe. Andi Scheuer als Verkehrsminister, der sehr, sehr viel Geld verbrannt hat und seinen Posten trotzdem nicht dem Anstand geopfert, soll nun die Benchmark sein. So hoch soll die Latte liegen. Passt man noch unten durch, kann man im Amt bleiben, so argumentieren ausgerechnet diejenigen, die Spiegels Rücktritt falsch finden. Und die Andi Scheuer falsch fanden. Verrückt.