16. April 2022
Viele Jahre meines Lebens war ich Ostern auf Sylt. Meine Eltern waren große Sylt-Fans, also fuhren wir zusammen mit der Familie der Schwester meiner Mutter hin. Ich habe diese Treppen noch gut in Erinnerung, weil ich als Kind die gesamte Strecke von oben nach unten an den Strand mit der Hand am Geländer entlangfuhr. Das Ziehen der unzähligen Splitter kostete meine Mutter und mich Zeit, Nerven und einen Teil unseres zwischenmenschlichen Verhältnisses. Ich habe Die Ärzte zum ersten Mal auf Sylt gehört, mit meiner Cousine zusammen das Miramar-Hotel besucht, weil Bela, Farin und Hagen damals ihr Abschiedskonzert dort gegeben haben.
Wo ich letztes Jahr Ostern war? Ich habe keine Ahnung. Und vor allem habe ich keine Ahnung, warum ich keine Ahnung habe. Normalerweise funktioniert mein Gedächtnis einwandfrei. Und Feiertage helfen ja obendrein dabei, Zeitmarken zu setzen. Dabei verwende zumindest ich wechselnde und sich überschneidende Kategorien.
Die Teenie-Zeit zum Beispiel kann ich gut in Sommerferien einteilen. Die einen verbrachte ich überwiegend im Freibad. Morgens hin, zum Mittagessen heim, danach wieder ins Nordbad. Ich las Stephen King, ich hörte R.E.M. Ein anderer Sommer war sehr besonders. Meine Freundin Lari und ich (wir kennen uns seit unserem zweiten Lebensjahr) waren Messdienerinnen, etwa 13 oder 14 Jahre alt, verbrachten Zeit mit ein paar Messdienerjungs, die wir seit unserer Kommunion kannten, und einer von ihnen wusste, wo an welcher Stelle des Kreuzwegs der Küster den Schlüssel zum Glockenturm versteckte. Wir haben oft dort oben gesessen. Chips und Schokolade gegessen, Cola getrunken, uns verschworen gefühlt. Laris und mein Soundtrack waren Madonna und Jon Secada, die Jungs hörten das Abbaesque-Album von Erasure. Lari und ich schlichen uns heimlich in Pretty Woman, und ich las Bravo Girl.
Einen anderen Sommer lang war ich das erste Mal verliebt; der Mann war sechs Jahre älter als ich, hatte schon den Führerschein, also fuhren wir viel an Seen. Ich himmelte an und hoffte. Der Mann fand mich zu jung, also fuhr ich Freundinnen in Frankfurt besuchen. Der Mann vermisste mich, wir wurden ein Paar. Ich hörte Coolio, ich las nicht mehr. Schule, Vereinssport, endlich ausgehen können und Teil eines Paares sein, etwas musste auf der Strecke bleiben. Auch Kirmes war vorbei.
Kirmes war nämlich auch lange so eine Marke. In Gütersloh gibt es eine dreitägige zu Pfingsten und eine einwöchige im Herbst, die Michaelis-Kirmes. Freitagsmittags ging es los, und ich fuhr schon freitagsmorgens mit Herzklopfen zur Schule. Für mich roch alles anders, wenn Kirmes war, klang alles anders, fühlte sich alles anders an. Über der Stadt, auf meinem Herzen lag ein Kirmesfilter. Den ganzen Tag lang hing ich auf der Kirmes rum. Meine Eltern fanden das furchtbar, aber nichts nutzte. Es zog mich hin. Bis halt der Mann kam.
Später wurden es Discos, die die Phasen charakterisierten, so nannten wir ja damals Clubs. Der Mann blieb lange derselbe, auch die Leute, mit denen wir unterwegs waren, und immer mal wieder wechselte das Ziel. Es gibt einen Moment in der „Hechelei“ in Bielefeld, wir waren alle zusammen dort: der Mann, Lari und ein paar andere. Es war kurz vor Weihnachten, Tannengirlanden hingen, und es lief „Last Christmas“. Ab und zu hat man ja dieses Gefühl, genau jetzt genau am richtigen Ort den perfekten Moment erwischt zu haben. Das war so einer.
George Michael starb an dem Tag, an dem ein mir sehr wichtiger Mensch geboren wurde.
Dann begann das Studium, grob kann ich es nach Städten unterteilen (erst Münster, dann Hamburg), etwas feiner nach Wohnungen. Keine Ahnung, warum, aber ich zog andauernd um. Mal wohnte ich alleine, mal in WGs mit Freundinnen, auch mal mit Fremden, dann wechselte ich die Stadt. Die Erinnerungsblöcke wurden trotz des Nomadentums länger. Grundstudium, Haupstudium. Urlaube gab es nicht; für Bafög verdienten meine Eltern zuviel, für die Unterstützung durch meine Eltern verdiente ich mit meinen Jobs an der Uni und beim NDR irgendwann zu viel. Fanden sie jedenfalls. Ich las zirka alles, viel Philippe Djian, Andrea de Carlo, Popliteratur und Camus. Im Sommer meiner Magisterarbeit musste ich immer mal wieder meinen Standort wechseln, sonst wäre ich verrückt geworden. Am offenen Fenster meines Kinderzimmers in Gütersloh, es lief „Moon River“, die Audrey Hepburn-Version, und ich las „Die Pest“. Wieder der perfekte Moment. Irgendwann las ich dann nur nur noch Literatur für meinen Abschluss.
In Münster hörte ich alles, wozu ich tanzen konnte, immer bis in die Früh. Der Vorlesungsplan followed Discoabendplanung. In Hamburg hörte ich auch das und Elektro. Ich habe nie zuvor und nie wieder danach so gute Musik gehört wie in Hamburg, weil ich einen Architekten-Freundeskreis hatte, der sein Stilbewusstsein auch musikalisch auslebte.
Der eine Mann war irgendwann nicht mehr da, dafür der andere. Der kam und ging, dann ging ich mal, wir trafen uns in einem Garten, wahrscheinlich unter einem Baum, ich kam wieder zu ihm zurück, das Ganze zog sich über zehn Jahre. Er hörte Punkrock, ich hörte mit.
Dann kamen München und Berlin, München rauschte so durch, obwohl es die schönste aller Städte ist, in der ich je gewohnt habe. In München las ich Zeitung, Zeitung, Zeitung, denn ich besuchte eine Journalistenschule und glaubte, trotz Examens jetzt erst mit dem Denken anzufangen und noch mal anfangen zu müssen, genauso war es mit dem Zeitunglesen. Ich hörte Musik, mit der mich die Hamburger versorgten. Während der Zeit in München begann das mit den Serien. Ich sah Six Feet Under und habe mich seitdem nicht getraut, es noch mal zu gucken, um den Zauber nicht zu zerstören.
Ich zog nach Berlin, weil der Mann, der immer ging und zurückkam, nennen wir ihn Bumerang, hier lebte. Hörte seinen Punkrock mit und hörte meine Musik, immer mehr nur noch meine, und irgendwann hörten wir auf mit dem Unsinn, weil dieses ständige Gehen und Zurückholen macht einen ja irre und alle anderen auch und die Liebe nicht stärker.
Berlin ist die mir unsympathischste aller bisherigen Städte, und hier lebe ich konsequenterweise seit 17 Jahren. Die sind unterteilt in Jobs; der eine Job wiederum in die Länder, in die er mich führte. Darunter Orte wie Myanmar, Nepal, Brasilien, Gaza. In diese Zeit fallen viele perfekte Momente.
Und natürlich fallen auch in meine Berlin-Zeit viele Wohnungen. In meiner aktuellen lebe ich seit sechs Jahren, ein Rekord, und es ist das erste richtige Zuhause seit dem Auszug bei meinen Eltern. Ich las hier unfassbar viel Zeitung, ich las hier auch sehr viele Bücher, und: Ich schrieb hier ein Buch. Während der Zeit in Berlin gab es zwei Todesfälle in meinem Umfeld, die beide einen Bruch zwischen dem Vorher und dem Jetzt markieren. Und es gab zwei Geburten; eine davon ist das Buch. Ich hörte eine Zeitlang The Smiths, langsam fange ich wieder damit an. Und ich höre die Lieder aus Hamburg. Seit einiger Zeit höre ich auch manchmal neue Lieder. Seit einiger Zeit mache ich sehr viel Neues. Schönes.
Vielleicht weiß ich deshalb nicht mehr, was ich letztes Jahr zu Ostern gemacht habe.