30. März 2022
An die Stelle von Überzeugung und Defensive sind Neugier und Staunen getreten. Die Anleitungen, die ich für mich verfasst habe, sind nicht in Stein gemeißelt, sie stehen in Sand geschrieben, damit ich sie revidieren kann.
Gennon Doyle, “Ungezähmt“
Dieser Beitrag entsteht erst am nächsten Morgen: Gestern Abend bin ich um 21 Uhr eingeschlafen. Und jetzt aufgewacht. Nach zwölf Stunden Schlaf. Frisch und erholt bin ich nicht, sondern weiterhin müde. Corona halt, Nachwirkungen. Ich mache mir keine großen Sorgen wegen Long Covid, denn ich bin ja erst seit einer Woche negativ getestet, das ist also noch im Rahmen. Sagt mein Arzt. Dem ich vertraue. Auch, weil er kein Betonkopf ist. Der Kopf arbeitet also immer. Und überarbeitet.
Was viel mehr nervt: Reaktionen darauf, wenn ich davon berichte, also in den sozialen Netzwerken. Lassen wir mal die Häme, die Niedertracht beiseite; was sich herausschält, ist die große Angst davor, zu sagen: “Oh, das ist neu für mich, das habe ich so noch nicht mitbekommen, bedacht. Diese Graustufe habe ich noch nicht in mein Denken einbezogen.“
Es scheint eine große Angst davor zu geben, Dinge stets neu zu denken. Glennon Doyle schreibt das oben in ihrem Buch “Ungezähmt“, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang. In den Jahren der Pandemie ist das ganz, ganz deutlich geworden: Im Fluss zu denken, offen zu sein erstens dafür zu sagen: “Das kann ich noch nicht beurteilen“, zweitens aber auch: “Ich hab mich geirrt, wenn sich jetzt rausstellt, dass xy passiert, dann kann meine Annahme ja gar nicht stimmen“ – das betrachten enorme Teile der Gesellschaft nicht als völlig normales Verhalten in einer total komplexen und sich in Überschallgeschwindigkeit weiterentwickelnden Welt. Nein, das wird als Fehler betrachtet. Als Eingeständnis dafür, dass man vorher idiotisch war. Und warum sollte man es jetzt auf ein mal nicht mehr sein? Einmal im Irrtum, immer im Irrtum.
Schreibe ich also: „Hatte Corona, seit einer Woche wohl nicht mehr, bin aber noch platt“ – kann ich den Wecker danach stellen, und ich bin mit diesem Vorgang noch gar nicht fertig, da kommt es schon: „Ha ha, genau, die Impfung hilft ja so toll! Ach, Frau Diekmann, jetzt Long Covid, oder was?!“ Es ist nicht mal das völlige Ignorieren wissenschaftlicher Fakten. Niemand schreibt etwas von Long Covid. Es ist das Fehlen von: “Gute Besserung“. Es geht nicht ums Miteinander, es geht ums Gegeneinander. Und vor allem geht es darum, dass man Recht behalten hat. Dass man mehr weiß als alle promovierten, habilitierten Fachleute. Und darin fühlt man sich wiederum andauernd bestätigt, denn die revidieren ja fortwährend ihre Annahmen. Einmal im Irrtum, immer im Irrtum.
Es ist eine wahnsinnig destruktive, frustrierende und frustrierte Mischung aus der enttäuschten, tiefen Sehnsucht nach einem genialen, unantastbaren Übermenschen, einem geistigen Anführer, und dem gleichzeitigen dringenden Wunsch, ein für alle Mal zu klären, dass es solche Übermenschen nicht gibt. (Einen regionalen Faktor erklärte eine Bekannte, geboren und aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, kürzlich so: “Die niedrige Impfquote im Osten ist die Rache der Leute dort für die Wiedervereinigung und die Treuhand.“)
Der stärkste Muskel des Menschen ist der Beharrungsmuskel. Nein, stimmt nicht: Das ist der zweitstärkste. Der stärkste ist der “Aufs Negative achten“-Muskel. In ganz überwiegender Zahl schreiben Menschen mir nämlich sehr nette Dinge. Danke dafür. Wird schon!