24. März 2022
Heute vor vier Wochen sind wir alle in einer anderen Welt aufgewacht. Vor genau vier Wochen ist Putins Armee auf seinen Befehl hin in die Ukraine einmarschiert. Seitdem tobt dort der Krieg, und jeden Tag kommt er uns mal mehr, mal weniger nah. Nein, das stimmt so nicht. Wer bin ich, in diesem Punkt für die Allgemeinheit zu sprechen? Mir geht er sehr nah, kommt er sehr nah, aber jeden Tag ist die Distanz unterschiedlich. Anfangs habe ich sehr viel Nachrichten konsumiert. Den Keller durchforstet, gespendet. Dann habe ich weiter gespendet, aber auch Vorräte eingekauft. Ich habe mit Freundinnen über Reisepass-Gültigkeiten gesprochen. Ich habe Leuten, die ich von Berufs wegen kenne und im Kriegsgebiet wusste, Nachrichten geschrieben, ihnen meine Hochachtung ausgesprochen und Mut zu. Ich habe mich registriert als mögliches Obdach für Geflohene, ich habe überlegt, wohin ich fliehe, sollte der Krieg wirklich näher kommen. All das ist eine random gewählte Reihenfolge; es sind keine Phasen, sondern mal überwiegt das eine, mal das andere, es überlappt sich. Abhängig nicht nur von den Entwicklungen, sondern auch von meiner Tageslaune und den anderen Dingen, die in meinem Leben noch passieren. Und über allem immer die Frage, die Sorge, die Furcht: Ist das jetzt egozentrisch?
Womit wir beim Thema wären, ich beim Thema wäre: dem sehr schmalen Grat, auf dem wir alle wandeln. Und ausrutschen. Manche ab und zu und lediglich marginal. Andere komplett.
Natürlich lässt uns der Krieg nicht kalt. Wenn wir nicht selber Geflüchtete aufgenommen haben, kennen wir doch zumindest alle jemanden, der das getan hat. Die Nachrichten behandeln kaum ein anderes Thema, direkt oder indirekt. Social Media ist zum Bersten gefüllt mit zum Teil gnadenlos plastischen Inhalten aus dem oder über den Krieg. Es muss kein Bewusstsein geweckt werden für die Greueltaten, die sich in Mariupol und anderswo abspielen. Eher muss jeder für sich einschätzen und dosieren, wieviel er verträgt. Was ist zu viel und dient der Sache nicht, weil der Mensch dann irgendwann dicht macht und sich mit dem Thema gar nicht mehr beschäftigt? Und was ist zu wenig, was ist egoistisch, ignorant? Wo ist der richtige Punkt, an dem man entscheiden kann, darf, muss: Wir können hier in unserer Wohnung niemanden aufnehmen, weil es uns überfordern würde? In welcher Hinsicht auch immer. Welche Hinsicht ist denn eigentlich ok? Ist es ok, zu sagen: Wir haben hier ohnehin schon so wenig Platz? Oder gilt dann: Platz ist in der kleinsten Hütte? Ist es ok, zu sagen: Wir haben zu wenig Zeit, wir können uns um diese Leute nicht angemessen kümmern? Oder gilt dann: Dann nehmt Euch die Zeit. Nehmt Euch frei, macht es irgendwie möglich! Wie läppisch niedrig ist diese Hürde im Vergleich zu denen, die diese Leute schon genommen haben? Ist es ok, zu sagen: Wir haben so wenig Geld? Oder gilt dann: Diese Menschen haben kein Zuhause mehr und kommen nicht mittellos, macht Platz, macht die Türen auf?
Wer definiert dieses Ok?
Mit anderen Worten: Vor wem muss man sich rechtfertigen für solche Entscheidungen? Was können wir vor uns selber rechtfertigen, wie viel (er)trägt unser Gewissen? Wenn die Freundin von der dreiköpfigen Familie erzählt, die jetzt bei ihr lebt – schwingt da eine Aufforderung mit, es ihr gleichzutun? Eine Frage, warum man es nicht längst getan hat? Oder sogar ein Vorwurf? Welche Folgen, die dieser Krieg jetzt schon für uns hat – Spritpreise, Energiepreise, Aufrüstung – oder womöglich haben wird – galoppierende Inflation, Wohnungsmangel – sollten wir jetzt thematisieren, welche wirken in Anbetracht dessen, was die Menschen in der und aus der Ukraine gerade erleiden, wie first world problems? Wo muss das Ich erstmal zurückstecken?
Micky Beisenherz hat für sich entschieden: Bei 300 Euro Einmalzahlung für einen Menschen, der so viel Geld verdient wie er. Diese Einmalzahlung hat die Ampel heute angekündigt, für uns alle, als Teil eines Pakets gegen die gestiegenen Preise, ich zählte sie oben ja schon auf. Das ist sehr, sehr nett von Micky. Punkt. Und es ist sehr klug von ihm, das öffentlich zu machen. So bringt er Leute, denen es ähnlich gut geht wie ihm, zum Nachdenken. Darüber, das Geld zu spenden, zum Beispiel. 300 Euro braucht er nicht so dringend, so seine Aussage, da zieht er die Grenze zum Ich. Aber nein, Stichwort Grenze: Jemand anderes überschreitet eine, indem er Micky (ich war zu Gast in seinem Podcast, wir duzen uns, also ist es keine Grenzüberschreitung, wenn ich ihn hier mit Vornamen erwähne) bewertet und auf Mickys Tweet antwortet: „Man kann auch durch das Herausstellen sozialer Empathie Distinktionsgewinn fischen…“ (Der Mann ist von der Bild, ich bette ihn nicht ein, wir bleiben hier unter uns.)
Man kann ganz viel. Man kann auch komplett vergessen, in welcher Lage wir alle gerade sind und sie dazu nutzen, noch den überflüssigsten und selbstvergessensten Seitenhieb mitzunehmen. Wenn man in einer Welt leben möchte, in der man bewertet, wie andere helfen, ist das ziemlich einfach: Man tut es. Man begeht diese Unverschämtheit, anderen quasi vorzuschreiben, wie sie die eigene Ohnmacht kanalisieren in etwas, das Kriegsflüchtlinge glücklich macht.
A propos: Dieser Mann spielt Klavier für sie. Er hat das auch schon 2014 auf dem Maidan getan, und 2021 im Ahrtal nach der Flut. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe auf einer beruflichen Reise auf der Balkanroute erlebt, wie jemand Klavier gespielt hat für geflohene Menschen. Und gesehen, wie froh die das gemacht hat. Die Kinder. Auch Trost für nur ein paar Minuten ist – genau: Trost.
Der Name des Mannes ist Davide Martello. Bitte sehr.