9. Mai 2022
Es gibt ja zwei Sorten Menschen. Die einen lassen eine solche im Schweiße meines Angesichts gefertigte Torte zurückgehen („zu mächtig“), die anderen freuen sich drüber und essen davon so viel, wie ihnen guttut.
Freundin L. gehört zu letzterer Kategorie. Mit ihr, ihrem Mann und ihren drei Söhnen habe ich das Wochenende verbracht. L. und ich kennen uns seit dem ersten Studientag. Gestern haben wir ausgerechnet: Das sind 25 Jahre. Sie und ihr Mann A. kennen sich seit 17 Jahren. In den letzten beiden Tagen sprachen wir darüber, wie viel wir Menschen schon bei unserer Geburt mit auf die Welt bringen. Stichwort: Zufriedenheit.
L. ist ein sehr glücklicher Mensch, weil sie von Anfang an sehr zufrieden war. Ich glaube, diese Reihenfolge und Kausalkette ist so korrekt wiedergegeben. L. hat das Glück, über lebenserleichternde Gaben zu verfügen: Sie kann sich gut in der Welt verorten und ihr Schicksal in Relation zu dem anderer Menschen setzen. Seit Beginn ihrer Ehe an ist L. mit den Kindern unter der Woche allein. A. arbeitet in einer anderen Stadt. Ihr erster gemeinsamer Sohn, inzwischen 13, gehörte zu den Babys, die 5 Uhr 30 für eine total angemessene Zeit zum Aufstehen halten. Und Schlaf für überschätzt. “Ich hab schon manchmal geweint, wenn ich ihn die achtzigste Runde um den Block geschoben habe“, erzählte L. am Wochenende – und grinste. Ich habe Fotos von ihr mit einem wuseligen Säugling auf dem Schoß, auf denen sie aussieht wie ein Zombie. Aber ein lächelnder. Nie habe ich sie sich beschweren hören.
Ihr zweiter Sohn bescherte ihr während seiner Zeit in ihrem Bauch einen veritablen Bandscheibenvorfall. Und auch da: keine Klagen. Eines Tages aber ein Anruf von ihr, als ich bei IKEA an der Kasse stand und mir selbst leid tat, weil es nicht voranging. Hörbar strahlend erzählte mir meine Freundin, dass sie nach der Geburt höchstwahrscheinlich wieder würde laufen können. “Wahrscheinlich muss ich nur hinken!“, jubelte sie. Sie hinkte nicht, bekam ein paar Jahre später sogar noch ein Kind, ist weiterhin unter der Woche allein mit inzwischen drei Jungs, voll berufstätig – und zufrieden. Sehr zufrieden. Wie immer. Gelassenheit und Ur-Vertrauen, daraus besteht das rote Band, das sie und A. zusammenhält.
Und dann ist da Freundin A. Zum zweiten Mal schwanger. Ein Wunschkind. Keine Komplikationen, keine auffällige Nackenfalte, keinerlei andere beunruhigenden Vorzeichen. A. ist beruflich erfolgreich, gerade hat sie ihren lang herbeigezitterten Traumjob ergattert. Ihre Ehe ist intakt, Schicksalsschläge kennt sie nicht. Ich frage: „Wie gehts dir?“ Und sie antwortet: “Joa. Irgendwie halt. Gibt nichts Neues.“ Und: Sie könne ja gerade keinen Alkohol trinken.
Ich habe einen Bekannten, J., der ist wie meine Freundin L., immer zufrieden. Sein Bruder T. ist anders veranlagt; er ist oft grummelig, sieht eher das Negative. Die Mutter der beiden erzählt gerne eine Geschichte aus der Kindheit ihrer Jungs: Die beiden spielten mit Bauklötzen. T., der ältere, baute einen Turm, einen hohen Turm. Als der zusammenbrach, tobte T., er schluchzte, er schrie, er kriegte sich gar nicht mehr ein. Der kleine J. griff sich zwei Klötze, legte den einen auf den anderen, fing breit an zu grinsen – und klatschte selig in die Hände. “So ist das bis heute bei denen“, sagt ihre Mutter.
Erst kommt die Zufriedenheit, dann das Leben. Vielleicht ist das so. Falls es so ist, ist das ganz schön unfair.