7. Mai 2022
In mir lebt eine unbezwingbare Ur-Angst: die, einen Zug oder Flug zu verpassen. An Reisetagen bin ich hochgradig nervös. Mein Zeitgefühl ist eigentlich gut, aber sobald ich eine Matrix im Kopf erstellen muss bestehend aus Abfahrts- oder Abflugzeit, Anreise zum Bahnhof oder Flughafen sowie meiner persönlichen Vorbereitung (Aufstehen, Duschen, Anziehen, Essen, Rest packen, Puls beruhigen, mich bei meinen Nächsten entschuldigen für meine Gereiztheit), bin ich ein Fall fürs Sauerstoffzelt. Unabhängig davon, ob ich nach Nepal fliege oder nach Königswusterhausen fahre.
Das Problem: Ich kann das nicht abstellen, zumal ich diese Panik für einen maßgeblichen Grund dafür halte, dass ich noch nie aus eigenem Verschulden Zug oder Flug verpasst habe.
Diese irrationale Sorge hat einen Nebeneffekt: Die Angstmauer vor meinem inneren Auge vor meinem Versagen baut sich zu e8nem dermaßen hohen und schier unüberwindlichen abgebildet auf, dass ich nichts anderes mehr sehe. Zum Beispiel, dass nicht nur ich zuständig bin für pünktliches Wegkommen. Das erschließt sich mir erst dann, wenn genau dieser Plan an anderen scheitert. Dann fällt es mir wieder ein: noch nie durch eigenem Verschulden.
Bevor ich hier weiter drechsle, sag ich, wie es ist: Ich sitze mal wieder in einem Zug, der nicht aus den Pötten kommt, in dem das Bistro dicht ist, in dem Masketragen als etwas dem Karneval Zugehöriges betrachtet wird, und in dem ich nicht auch nur einen einzigen Schluck Wasser zu mir nehmen werde. Denn wenn schon alles andere nicht funktioniert (wir bleiben auch dauernd stehen), möchte ich nicht in die Verlegenheit kommen, dasselbe in punkto Toilette feststellen zu müssen.
Nun entstamme ich einer Autofamilie (Vater Autoverkäufer, Bruder Autoverkäufer und Mechaniker, Mutter stets mit Feuereifer dabei). Dass ich mit 18 den Führerschein mache, war auch deshalb klar (und weil Gütersloh eine erstaunlich verschnarchte Stadt ist, ohne Führerschein versauert man). Und auch, dass ich sofort auf die Straße geschickt werde – um Auto zu fahren, meine ich natürlich, wegen der Praxis. Quasi schon an meinem 18. Geburtstag spannten meine Eltern mich ein bei der Auslieferung von Autoreifen, Felgen, Auspuffanlagen, Tieferlegungssätzen undsoweiter. Ich fuhr den Autoteilegroßhandelfirmen-eigenen Bulli. Einen großen Bulli. Ohne Rückspiegel.
Oft habe ich am Anfang ein bisschen gezittert, und oft wurde ich von den Schraubern, bei denen ich die Ware ablieferte, bestaunt, belächelt, ungefragt aus Parkplätzen rausnavigiert, fuhr ich wieder von dannen. Aber natürlich war das eine gute Schule. In aller Bescheidenheit würde ich von mir sagen, dass ich eine sehr gute Autofahrerin bin. Und eine leidenschaftliche bin ich auch. Ich schätze Unabhängigkeit, ich schätze Spontaneität, und ich singe sehr gerne sehr laut zu sehr lauter Musik. All das bieten mir weder Bahn noch Airlines. (Vielleicht scheitert der letzte Punkt aber auch schlicht an meinem Selbstbewusstsein, das ist möglich.)
Warum ich trotzdem, so wie jetzt, doch wieder im Zug sitze? Weil ich nicht nur Ur-Ängste habe, sondern auch ein Ur-Vertrauen. Oder vielleicht bin ich auch einfach nur doof. Immer wieder denke ich, wenn etwa eine Strecke wie Berlin-Hamburg ohne Probleme funktioniert hat: „Geht doch!“ Nur sind wir da ja schon beim grundsätzlichen Problem: Es ist nicht selbstverständlich. Das ist wie bei einer Bekannten, deren kleine Tochter augenscheinlich verhaltensauffällig ist, was aber lange niemand in der Familie wahrhaben wollte. Was jedoch um so deutlicher wurde, je öfter diese Bekannte hervorhob, zu welchen Gelegenheiten ihr Kind nicht komplett ausgerastet war.
Man suchte sich Hilfe bei einer Psychologin, lenkte das Dilemma also in – Achtung – gute Bahnen. Das sehe ich bei der – Achtung – Bahn aber nicht. Man überlegt ja schon drei Mal, ob man überhaupt was dazu schreibt, denn es ist so unoriginell.
Aber wissen Sie was? Wir meckern ja nicht deshalb dauernd, weil uns nichts Besseres einfällt, über das wir meckern können. Ich will ja gar nicht meckern. Ich will pünktlich ankommen. Und ich will nicht im proppenvollen Zug sitzen, in dem meine Vorderfrau am Telefon erst einen Termin absagt und sich dafür entschuldigt, dass sie das Versagen der Bahn nicht einkalkuliert hat, und diesen Termin dann nach einem weiteren Halt auf freier Strecke komplett absagt und ziemlich enttäuscht und laut „Scheiße“ sagt. Sie hat ja nichts falsch gemacht. Sie hat dieselben Maßstäbe an die Bahn angelegt wie an sich. Ich bin kein Psychologieprofi, würde aber sagen: gesundes Verhalten. Ich will keine Verantwortung übernehmen müssen für ein Unternehmen, das ein Totalausfall ist.
Totalausfall meint damit nicht, dass nichts funktioniert. Es bedeutet: Man kann nie davon ausgehen, dass alles funktioniert. Und Letzteres ist nun mal die Ausnahme. Ich kenne die Statistiken, dass alles eigentlich gar nicht so schlimm ist. Aber es ist mir vollkommen gleichgültig, ob jemand gestern komplett ohne Zwischenfälle von Freiburg nach Glückshausen bei Flensburg reisen konnte und den Zug mit einem tiefenentspannten Lächeln verließ, weil er alle Anschlüsse pünktlich erreicht hatte, kein Zug ausgefallen oder zu früh und ohne Vorwarnung einfach ohne ihn abgefahren, irgendwo seine Reservierung registriert worden war, der Cappuccino so gut (die Maschine also nicht kaputt und genug Milch an Bord), das Chili von Carne im Bistro lecker (Mikrowelle auch intakt). Gut, ich könnte diesen wahrscheinlich immer noch sehr relaxten Menschen anrufen, derweil ich total genervt im ICE von Berliner nach Düsseldorf sitze, wo sich ein Vierjähriger sehr auf den Besuch aus der Hauptstadt freut. Und mich von diesem Menschen beruhigen lassen, von seiner guten Laune anstecken. Aber das Szenario ist ja zirka ebenso unrealistisch wie ein konsequent guter Ablauf bei Nutzung der Deutschen Bahn.
Ich nehme das nächste Mal wieder das Auto. Ein riesiges Privileg.
Und, a propos unrealistisch: Viel Vergnügen im Sommer, Stichwort „9 Euro-Ticket“. So weit reicht nicht mal mein Ur-Vertrauen, um zu glauben, irgendjemand wäre darauf vorbereitet. Mir tun die Leute Leid, die echt drauf angewiesen sind.