6. Mai 2022
„Nicole!“, schallt es über den langen Flur, der zu meinem Büro führt. „Du trainierst viel zu viel im roten Bereich. Dein Puls muss runter. Das ist nicht gesund!“
Die Stimme und die Ermahnung gehören zu Lieblingscutterin Annette. Annette hat sich vor einigen Monaten ein Sportgerät gekauft, das während des Lockdowns zum Highlight für sehr viele Menschen wurde. (Und zur Todesfalle für Mr. Big.) Und wie so viele andere, die ich kenne, ist sie nach wie vor total überzeugt von diesem Gerät. Ich wiederum habe mein Fitnessstudio während der Coronazeit zirka gar nicht gesehen. Wenn es so weitergeht, kann ich dasselbe demnächst von meinen Füßen behaupten.
Ein Trend, der gestoppt werden will, also hörte ich auf Annette und andere überzeugte Kundinnen und legte mir eben dieses Gerät zu. Eine nicht ganz unwesentliche Investition, aber da ich von meinen Eltern zum 40. (also einst) einen Crosstrainer geschenkt bekommen hatte – hier liebevoll „der Kleiderständer“ genannt -, konnte ich durch dessen Verkauf einen für meine schwäbische Hausfrauenseele verschmerzbaren Deal machen.
Nun steht das Gerät seit 10 Tagen in meinem Bad, und ich bin ebenso überzeugt. Sportlich – aber auch zeitgeistig.
Es ist natürlich, sagen wir es positiv, sehr individueller Sport. Ich hocke allein in meinem Bad auf dem Gerät, kann mich überdies noch zusätzlich über Bluetooth-Kopfhörer abschotten, und versinke im Training. Auf dem Bildschirm vor mir: ein Trainer oder eine Trainerin. Keine Menschen um sie herum (die Kurse werden seit Corona-Ausbruch ohne andere Sportelnde im Studio aufgezeichnet), niemand um mich herum. Anders als im Fitnessstudio. Keine gemeinsame Zeit, auf die wir uns geeinigt haben, kein gemeinsames Erlebnis im geschlossenen Raum.
Nur: Warum sollte mir das fehlen? Die Trainer sprechen die ganze Zeit (find ich super, die sind alle lustig, erklären gut), aber sie sprechen nicht pseudo-locker und menschelnd Mitturnende an, die schon seit Jahren dabei sind. Ich brauche niemanden, der vorturnt und gleichzeitig Gisela in der dritten Reihe fragt, wie denn eigentlich ihr Wochenendtrip war. Oder Helmut augenzwinkernd für sein neues, fesches Outfit lobt. Mag sein, dass Helmut das lustig findet und Gisela und viele andere solche Ansprachen mögen, weil sie suggerieren: „Wir sind hier alle eine große Familie!“ Es stört mich nicht, aber es fehlt mir auch nicht. Und ich habe trotz langjähriger Gym-Erfahrung auch noch nie spontan mit irgendeiner Gisela oder irgendeinem Helmut nach dem Workout noch nen Proteinshake getrunken. Ich geh da hin, ich mache da Sport, ich gehe da anschließend duschen (in Flip Flops, und das finde ich bescheuert), ich ziehe mich da wieder an, ich föne mir da mit einem Fön die Haare, bei dem ich die ganze Zeit den Knopf gedrückt halten muss, und dann gehe ich von mir aus Kaffee trinken mit einer Freundin, die ich nicht aus dem Fitnessstudio kenne.
Von denen könnte ich aber interessanterweise neuerdings gleich mehrere beim virtuellen Sport antreffen, wenn ich wollte. Wir haben alle einen Nutzernamen, es gibt Livekurse, man kann sich für diese miteinander verabreden und in dem Wissen, dass die andere dabei ist, zusammen trainieren – oder auch gegeneinander, im sportlichen Sinne, natürlich. Neulich trainierte ich lustigerweise zusammen mit einem Parteichef. Ich nenne keine Namen, aber der Mann ist fit, so viel verrate ich.
Zurück zu den Trainern: Die paar, die ich in meinen bisherigen Einheiten kennengelernt habe, verweisen alle auf ihre jeweiligen Social Media-Profile. Bei Instagram kann ich also nachlesen, welche Kurse Trainer Cliff in der kommenden Woche anbietet. Aber auch, wo er gerade Urlaub macht (Foto mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm) und welche Musik er mag. Ich kann ihm dort auch schreiben, wie ich das letzte Training fand und was ich ggf. für Probleme währenddessen hatte.
Cliffs Arbeitgeber taucht sehr offensiv im Bild als Logo auf, Cliff ist mehrheitlich in seinem Job zu sehen. „Privat hier“ ist hier nicht – und genau das ist offensichtlich auch gar nicht gewollt. Man profitiert voneinander, so scheint das Credo zu lauten. Die große Marke etabliert die eigenen Leute als individuelle Marken, ohne den Kontrollverlust oder eine Konkurrenz dadurch zu fürchten. Interessant wäre, ob das Haus Social Media-Regeln an seine Mitarbeiter definiert hat. Eine andere Trainerin ist mittlerweile Gast in Podcasts, Aktivistin und Buchautorin. Als George Floyd von einem Polizisten getötet wurde, thematisierte sie seinen Tod und die Black Lives Matter-Bewegung in ihren Kursen – in denen sich bis zu über 20.000 Teilnehmer zusammenfanden. Eine politische Bewegung im absoluten Wortsinn.
Genau so wie die eingangs angesprochene Vernetzung. Annette und ich folgen einander auf der Plattform. Deshalb kann sie auch nachvollziehen, dass ich vorgestern tatsächlich viel zu lange im hochroten Pulsbereich trainiert habe. Da hatte ich einen ehrgeizigen Tag und habe einen Kurs gewählt, für den meine Kondition ganz offensichtlich noch nicht ausreicht.
Nun bin ich eher vernünftig veranlagt und in meiner Selbsteinschätzung Realistin: Ich mache das genau einmal, und dann bin ich die Tage danach so angestrengt allein vom Gedanken daran, wieder Sport zu machen, dass die Gefahr wächst, mir einen neuen, unverhältnismäßig teuren Kleiderständer angeschafft zu haben. Deshalb belege ich bis auf Weiteres wieder mir angemessene Kurse. Die für Anfänger.
Trotzdem ist es gut, dass Annette mich auch noch mal dran erinnert. Ich bin und bleibe Fan sozialer Kontrolle. Ach so, Stichwort Kontrolle: Annette hat bereits die Schattenseiten unserer neuen Sekte ausgemacht. „Ich hab meinen Account jetzt gesperrt“, sagt sie. „Wenn du regelmäßig trainierst und plötzlich ist da zwei Wochen Ruhe in deiner Statistik, wissen die Leute ja, dass du in Urlaub bist. Tolle Info für Einbrecher!“
Recht hat sie. Sie könnte das Problem allerdings auch anders lösen: In den zahlreichen Communities, die sich rund um das Gerät gebildet haben und in denen reger Austausch herrscht, kann man Hotels nachlesen, die das Gerät in ihren Fitnessräumen anbieten. Mir persönlich ginge das jedoch zu weit. Das hätte dann doch zu viel von „Urlaub mit Helmut und Gisela“.