29. März 2022
Mein kleiner (er würde vorwurfsvoll sagen: „Groooßer, Micole!“) Nachbar Otto ist heute 3 geworden. Und diesen Prachtkuchen hat seine Mutter dafür gebacken. Den und einen anderen, den Otto heute Morgen mitgenommen hat in die Kita. Es war gar nicht so einfach, das Mehl aufzutreiben, hat sie mir erzählt. Erst im dritten Späti (so heißen hier in Berlin die Kioske) wurde Ottos Vater fündig. Im Rewe, im Biomarkt, beim Lidl – da herrschte zumindest bei denen hier im Viertel letzte Woche Fehlanzeige. Es wird gehamstert.
Otto hatte Glück, Papa hatte Mehl gefunden, und die Kita war heute auf. Das war letzte Woche noch anders, da war mal wieder zu viel Corona und zu wenig gesundes Kitapersonal, also blieb Otto fünf Tage mit seiner Mami zu Hause.
All das juckt Otto nicht. Er ist ein sehr frohgemuter kleiner Kerl. Als Otto in die Kita eingewöhnt wurde, war das im April 2020. Da war schon Pandemie. Von Anfang an waren da Leute mit Maske, auch seine Eltern, sobald die die Kita betraten. Was sie zwischenzeitlich auch mal gar nicht durften und ihn vorn an der Tür abgeben mussten. Infektionsschutz. Otto hat sich daran gewöhnt, drei Mal die Woche zu Hause auf Corona getestet zu werden. Dieses Kind hatte in seinem Leben schon mehr Wattestäbe in der Nase als Eiskugeln im Bauch. Naja, fast.
Otto hat erst vor einem halben Jahr angefangen, zu sprechen. Er fand es wohl klüger und effizienter, sich erstmal anzuhören, was wir anderen zu sagen haben, ehe er selbst mitreden wollte. Seitdem hat er mächtig aufgeholt. Das Wort „Quarantäne“ gehört zu seinem aktiven Wortschatz.
All das juckt Otto auch deshalb nicht, weil sein Erinnerungsvermögen erst jetzt irgendwann einsetzen wird. Das heißt er kann sich sowieso an keine Zeit vorher erinnern. Er findet das alles normal. Wir sind alle sehr gespannt, wie er gucken wird, wenn wohl die meisten Leute ab sehr bald im Supermarkt keine Maske mehr tragen.
Ich wünsche Otto von Herzen, dass die Welt mit dem Einsetzen seiner Erinnerung endlich wieder klarkommt. Dass er nicht genau so früh wie „Quarantäne“ das Wort „Panzer“ lernen wird, weil er es bei unseren Erwachsenengesprächen am Küchentisch seiner Eltern aufschnappt. Dass er die Kita immer offen kennt. Dass er nie wieder enttäuscht vor dem verschlossenen Kindertheater weinen muss, weil auch dort alle Corona haben. Dass er dann einen Schwimmkurs machen kann, wenn er das gerne möchte und alt genug dafür ist. Dass er in die Schule kommt, sich Corona bis dahin irgendwie geregelt hat und er deshalb in der Schule keine Maske tragen muss. Dass er, sollte das nicht so sein, immer den Schulunterricht bekommt, den er verdient.
Und ich wünsche Otto, dass er Scham in derselben chronologischen Reihenfolge erleben wird wie ich, wobei das jetzt im Zeitraffer denkbar grob zusammengefasst ist. Als ich zirka 15 war, schickte meine Mutter mich los zum Kondomekaufen. Meine unfassbar witzigen Eltern waren nämlich auf einen Geburtstag eingeladen, irgendwer aus dem Tennis- oder dem Kegelclub, schätze ich, und wollten einen – Achtung – Gummibaum verschenken. Riesenbrüller. Da Gütersloh nicht riesig ist und meine Eltern bekannt waren wie bunte Hunde, wurde ich zu „Ihr Platz“ geschickt, der Drogerie in der Fußgängerzone. Ich war ein Teenie, es waren Kondome. Es war mir peinlich.
Heute musste ich Öl kaufen, denn hin und wieder brate ich Sachen an. Und ich registrierte an mir erstens ein absurdes Triumphgefühl, als ich tatsächlich welches vorfand. Und zweitens merkte ich an der Kasse dies: Es war mir peinlich.
Ich wünsche uns allen, dass wir mal wieder klarkommen.