23. März 2022
Ich möchte nicht Annalena Baerbock sein. Nicht, weil Friedrich Merz sich während ihrer Rede ironisch ans Herz greift und sich mit dieser Geste über sie lustig macht. Da hat Annalena Baerbock höchstwahrscheinlich schon sehr viel härtere Reaktionen in der politischen Auseinandersetzung gesehen – denn das haben wir ja alle. (Übrigens versucht Merz, sie lächerlich zu machen, bevor Baerbock Srebrenica erwähnt. Twitterteile tun so, als wäre das anders, und das ist weit unfairer als Merz‘ Reaktion auf Baerbock.)
Nein, ich beneide sie auch nicht deswegen nicht (Obacht, doppelte Verneinung!), weil sie in Srebrenica war, wenngleich ich mir das tatsächlich schrecklich vorstelle. Und auch die Tatsache, dass Außenministerin Annalena Baerbock ihre Vereidigungsurkunde quasi als Handgepäck mit an Bord nehmen musste, weil sie im Grunde ja gleich im Anschluss nach dem Besuch beim Bundespräsidenten zum Flieger hechten und ihre erste direkt mit riesiger Tragweite behaftete Reise antreten musste und nun eine zentrale Rolle dabei spielt, Putin sowohl irgendwie einzuhegen (ich weiß…) und gleichzeitig den Dritten Weltkrieg zu verhindern, ist nicht der Grund dafür.
Der Grund, warum ich nicht Annalena Baerbock sein möchte: Ich hätte an ihrer Stelle längst ein emotionales Schleudertrauma erlitten.
Vor ziemlich genau einem Jahr liebte Deutschland Annalena Baerbock. Die Grünen hatten es geschafft, bis zum Schluss dichtzuhalten, wer Kanzlerkandidatin wird: Robert oder eben Annalena. Alle duzten sie schon, denn sie waren die Grünen der Herzen. Ich spoilere nicht, wenn ich schreibe: Baerbock wurde es. Und, um einen großen Song einer großen Dame hier auch endlich unterzubringen, ich hab ja auch einen Bildungsauftrag, behaupte ich jetzt einfach mal so und Sie müssen mir erst mal das Gegenteil beweisen:
Rapide ging es bergab. Lebenslauf, Buch, unsouveräner Umgang mit Kritik, Misogynie – das Gesamtpaket kennen wir alle, ich spoilere nicht, wenn ich sage: Baerbock wurde nicht Kanzlerin. Die Monate zwischen Nominierung und Scholz-Zug-Einfahrt lang wollte ich auch nicht Annalena Baerbock sein. Unbeteiligte Beobachter, die bis dato auf dem Mond gelebt und nichts mitbekommen hatten, mussten denken, bei ihr handle es sich um eine geistig enorm retadierte Frau, die ähnlich wie der Partyschreck durchs Leben stolpert und dabei irgendwie aus Versehen im Rampenlicht gelandet ist. Oder um eine stets sehr laut, sehr hoch, sehr unpassend und sehr, sehr dumm argumentierende 5-Jährige, gefangen im Körper einer Erwachsenen. Und ich fasse hier wohlgemerkt nur den Tenor durchaus in der Mitte der Gesellschaft stehender Menschen zusammen. Der Mob, der Baerbocks Kopf auf Körper in Pornoszenen montierte oder sich solchen Schund zumindest ansehen wollte, der sie beleidigte, beschimpfte, verbal anspuckte – der soll hier keine Rolle spielen. Wir wollen unter uns bleiben, ok?
Also. Baerbock wurde nicht Kanzlerin, dafür Chefin des AA. Erstmal blieb alles wie vorher (für zirka fünf Minuten, ihre Aufwärmphase im neuen Amt war ja wie gesagt nicht viel länger): Der Untergang Deutschlands wurde von Experten – ich meine das ironisch – prophezeit. Die optimistischsten Prognosen sahen Deutschland nach vier Jahren unter Außenministerin Baerbock international in Gänze isoliert, blamiert und im Grunde irreparabel beschädigt. Das Bangladesch Europas, so in etwa skizzierten viele Spezialexperten Deutschlands Zukunft. Einzig und allein verantwortlich für diesen rasanten, aber wohl unumgänglichen Niedergang würde sein: genau.
Und exakt diese Frau ist nun wieder da, wo sie mal war: in aller Munde und Herzen. Beachtlich viele Menschen sind in den vergangenen Wochen über ihre Schatten gesprungen und haben ihre Meinung öffentlich revidiert. Man zollt Baerbock Respekt. Und da Fallhöhe anscheinend nicht metrisch ist, trendet nun heute nach Baerbocks Rede in der Haushaltsdebatte im Bundestag: #Kanzlerin. Drei Monate im Amt, und schon ist alles besser als vorher.
Mir wäre da schlecht an ihrer Stelle: Erst ganz oben in den Beliebtheitscharts, dann am Boden, nu wieder an der Spitze, und das alles binnen weniger Monate – das hält ja kein Mensch aus. Aber wenn man manchen Menschen glauben darf, ist Annalena Baerbock sowieso kein Mensch. Sie ist auch kein Unmensch mehr. Sie ist jetzt ein Übermensch.
Die umgekehrte Entwicklung macht ja übrigens gerade Karl Lauterbach durch. Aber das ist ein anderes Thema.