21. März 2022
Einer von diesen Tagen, an denen sich Nachrichten dermaßen kongenial ergänzen, dass man sich theoretisch freuen müsste. Hätte man kein Herz und keinen Puls und keinen Anspruch an diese Welt, eine gute zu sein. Man könnte sich freuen, wenn nicht auch Tragik und Skandale hinter auf den ersten Blick grotesken Nachrichten wie dieser
und auch dieser
stecken würden.
Beginnen wir mit dem angeblichen Papiermangel, den die gesetzlichen Krankenkassen als Argument gegen die Einführung einer Impfpflicht anführen. Wie deutsch kann eine Begründung sein? Und deshalb so glaubhaft.
Es ist 2022, und meine Freundinnen sonnen sich nicht in der Südsee, sondern sind aufgerieben nach zwei Jahren Pandemie. In denen ihre Kinder entweder nicht in der Schule waren weil wegen Schule zu oder weil sie Corona hatten. Oder diese Kinder saßen mit Maske in der Schule und/oder mit Maske und frierend, weil ja ständig gelüftet werden muss. Die Schulkinder, die nicht in die Schule konnten, hatten großes, ich wiederhole: großes Glück, ich wiederhole: Glück, wenn sie in den vergangenen Jahren kompetenten Digitalunterricht erleben konnten. Oder überhaupt Digitalunterricht. Lehrer in Deutschland sind dafür nicht ausgebildet, Lehrer und Schüler in Deutschland sind dafür nicht ausgestattet.
Wer sich einmal mit dem Digitalpakt beschäftigt hat, mit den Formularen, die Schulen ausfüllen müssen, mit den Verantwortlichkeiten, die im Anschluss an sie übergehen bei der Wartung und Pflege der Geräte, kann nur zu zwei Schlüssen kommen.
Erstens: Die deutsche Politik will nicht, dass auch nur ansatzweise irgendetwas Digitales in unseren Schulen stattfindet. Sie stemmt sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen. Der Digitalpakt ist dermaßen absurd, so eine Unverschämtheit in seiner Praxisferne und seiner jeder Vernunft gegenüber feindseligen Handhabung, dass man von aktiver Abwehr sprechen muss. Und dafür kann es nur eine Begründung geben: Alle bisherigen Regierungen seit den achtziger Jahren haben alles, was nach dem Faxgerät entwickelt wurde, für gefährlich gehalten.
Zweitens: Wer in Deutschland beruflichen Erfolg genießen will, setzt am besten auf die Entwicklung möglichst unübersichtlicher Verfahrenswege. Das ist hier gefragt, das kommt nicht aus der Mode. Komplizierte Papiere (ja, Papiere) – das ist hier ein Karrierebooster. Wer sich die überlegt, der muss sich keine Sorge machen. Goldenes Zettel-Handwerk, dafür stehen wir.
Ich habe kein Schulkind, und dafür bin ich seit zwei Jahren dankbar. Nur, machen wir uns nichts vor: Hätte ich eins, wäre ich eine gute Lehrerin. Zumindest in den Fächern, die ich beherrsche. Ich habe einen akademischen Abschluss und verdiene mein Geld damit, Zusammenhänge zu erklären. Überdies habe ich eine Zeitlang Studenten unterrichtet. Und würde ich an meine Grenzen stoßen, Mathe 3. Klasse etwa, könnte ich meinem Kind Nachhilfe bezahlen. Hätte ich aber keinen guten Abschluss, wären mir das Lernen und das Lehren schwergefallen, und hätte ich das Geld für die Schülerhilfe nicht – dann hätte ich ein in mehrfacher Hinsicht sehr armes Kind. In einem sehr reichen Industriestaat. Einer Bildungsrepublik, wie vor gar nicht allzu langer Zeit dreist behauptet wurde. Einer Bildungsrepublik, die sich einen Dreck um Bildung kümmert. Deren Verantwortliche lieber sagen: „Tja, so einfach ist das aber nicht, gibt so viele Hürden: Gerätenormen. Zu Hause daddeln. Viereckige Augen. Egoshooter und Amokläufe. Föderalismus“, und dann in der Zeit, in der man diskutieren müsste, welche Hürden wirklich Hürden sind und vor allem: wie man sie am besten und vor allem schnell überwindet. Ich habe in den letzten zwei Jahren nicht gesehen, wie ein Mitglied der Bundesregierung vorgeprescht ist in dem Bemühen, eine länderübergreifende Lernplattform zu entwickeln, und dann zurückgepfiffen wurde. Sie?
Lieber wird darüber diskutiert, wie hoch die Hürden sie sind. Wie beschaffen. Ob diese Hürden eigentlich der deutschen Hürden-Norm entsprechen. Ob der deutsche Dachverband für Hürden diese eigentlich abgenommen hat. Und der TÜV Nord.
Wir haben hierzulande kein Analyseproblem. Wir haben ein Analyse-Geilheit-Problem.
Und weil diese Digitalisierungs-Katastrophe so allumfassend ist – ja, es ist eine Katastrophe, das ist es auch in Zeiten dieses fürchterlichen Krieges, der natürlich eine viel größere ist, keine Frage – hat heute Morgen wohl angesichts der „Wir können keine Corona-Impfpflicht einführen, weil wir haben nicht genug Papier wegen Corona“-Nachricht wohl niemand gedacht: „Was ist denn das für eine beknackte Ausrede, fällt denen keine bessere ein?“. Nein, der erste Gedanke war doch eher so ein abgestumpftes, mattes: „Jo, klar, Digitalisierung. Türlich, türlich.“
Womit wir wir bei Nachricht Nummer zwei wären. Kinder aus der Ukraine haben gottlob hier bei uns Zuflucht gefunden. Die Willkommenskultur soll riesig sein, auch verglichen mit den Anfängen 2014, sagen Hilfsorganisationen. Es wird so viel gespendet, dass es teilweise zu viel ist. Wohnraum, Kleidung, Geld, Decken, Spielzeug – alles.
Und die Bildung? Die kommt aus der Heimat. Ukrainische Kinder haben weiter Schulunterricht. Digitalen. Aus der Ukraine heraus geführten. Aus einem Kriegsgebiet.
Über die Gründe, warum das so geschieht und nicht in Willkommensklassen, will ich hier nicht schreiben. Dafür weiß ich darüber zu wenig. Was ich aber weiß: Die Ausrede namens „Corona kam ganz plötzlich, wie hätten wir denn da von einem Tag auf den anderen umstellen sollen auf digital?!“ zieht weniger denn je. Ein Land im absoluten Ausnahmezustand, das schon vorm Krieg nicht geküsst war vom Schicksal, nicht als reicher Mann Europas galt, hatte schon vor eben diesem Krieg eine anscheinend gut funktionierende digitale Infrastruktur implementiert und vor allem eine angemessene Hochachtung vor dem Gut Bildung und lässt sich dies alles jetzt weder von Bomben, Hyperschallraketen noch durch Angst oder Trauma nehmen.
Ach so, als Randnotiz noch: So wie es aussieht, herrscht übrigens doch kein Papiermangel in Europa, wie von den gesetzlichen Krankenkassen behauptet. Dachverbände (klar) und andere haben sich zu Wort gemeldet.
Diese Episode klingt verdächtig nach Loriot. Wenn es nicht so tragisch wäre. Und es wird noch tragischer: Die Digitalisierung, da geh ich jede Wette ein, wird weiterhin nicht nach oben rutschen auf der politischen Prio-Liste. Denn es ist Krieg, es ist Corona, und vor lauter Verästelung sieht man leider an Entscheider-Stellen die Zusammenhänge nicht.
Zum Schluss noch dies: Hoffentlich hält das deutsche Netz dem Ansturm wissbegieriger ukrainischer Kinder stand. Ich wünsche es ihnen von Herzen.